Ein türkischer Führer einer Bewegung mit Fürsprechern und Kritikern
SAYLORSBURG, PENNSYLVANIA - Hier im Nordosten von Pennsylvania, wo das fruchtbare Ackerland ganz unvermittelt den betörend schönen Ausläufern der Pocono-Berge weicht, hat sich in aller Abgeschiedenheit einer der einflussreichsten Männer der Türkei niedergelassen; und einer der umstrittensten.
Bewunderer beschreiben Fethullah Gülen, 69, mit Ehrfurcht in der Stimme als einen muslimischen Prediger, Autor und Lehrer, der die leisen Töne liebt und über eine riesige Anhängerschaft verfügt. John L. Esposito, ein Professor an der Georgetown Universität, der über Gülen geforscht hat, ist der Meinung, wenn es eine öffentliche Persönlichkeit gebe, mit der man Gülen vergleichen könne, dann sei dies der Dalai Lama.
Gülens Themen sind unter anderem Frieden und Toleranz, die Stärke der amerikanisch-türkischen Beziehungen und die Bedeutung der freien Marktwirtschaft. Wenn er in einem seiner seltenen Interviews Dinge sagt wie: „Im wahren Islam gibt keinen Platz für Terror“, dann schöpfen westliche Offizielle daraus Zuversicht. Die ehemalige Außenministerin Madeleine K. Albright und James A. Baker III, einer ihrer Vorgänger, haben auf von Gülen-Gruppen gesponserten Veranstaltungen gesprochen und sein Eintreten für Demokratie und Dialog gelobt. Seine Kritiker sehen es freilich weniger positiv. Sie sagen, dass Gülens zutiefst nationalistische Anhänger in der Türkei dabei sind, in Machtpositionen aufzusteigen, möglicherweise mit einer geheimen Agenda.
Die lange Zeit säkulare Türkei schickt sich unter einer Islam-freundlichen Regierung zurzeit an, eine wichtigere Rolle in der Welt zu spielen, und positioniert sich als Schlüssel-Akteur im Umgang mit Israel, Irak oder Iran. Damit aber rücken auch die schwelenden inneren Spannungen im Hinblick auf die Religion in der öffentlichen Sphäre immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Manche betrachten Gülen als Teil einer schleichenden, aber mächtigen Gegenbewegung gegen die vor fast einem Jahrhundert von Kemal Atatürk initiierte Säkularisierung der Türkei. Diese wurde von den Muslimen als furchtbarer Anschlag auf die traditionellen Werte empfunden, von den Säkularisten jedoch als entscheidender Schritt hin zur Modernisierung des Landes. Gülens Ansatz zielt darauf ab, Tradition und Moderne gewissermaßen miteinander zu verschmelzen.
Er und vielleicht ein Dutzend seiner Anhänger leben in einer 25 Morgen (10 Hektar) großen, üppig mit Farnen und Blaufichten bewachsenen ländlichen Oase, die auch moderne Gästehäuser, ein Konferenzhaus und einen glitzernden Teich umfasst, in dem es von orangefarbenen Karpfen nur so wimmelt. Gülen, der bei schlechter Gesundheit ist, verlässt dieses Idyll nur selten. Bei einem klassischen türkischen Mittagessen macht der mit aller Entschiedenheit bescheidene Sohn eines Kleinstadt-Imams nicht den Eindruck, der so einflussreiche Mann zu sein, der er zweifellos ist.
Im Alter von 5 Jahren war Gülen Koran-Schüler, mit 14 war er Prediger. Im Laufe der Jahre scharte er eine große Anhängerschaft um sich. Er inspirierte die Gründung eines internationalen Netzwerks, bestehend aus Schulen, Krankenhäusern und Unternehmen. Dazu gehören auch die islamische Bank Asya mit Vermögenswerten in Milliarden-Höhe sowie Zeitungen - unter anderem die größte Tageszeitung der Türkei, die Zaman - und ein in Somerset, New Jersey, angesiedelter Fernsehsender namens Ebru-TV. All dies sind Teile dessen, was von Außenstehenden als die „Gülen-Bewegung“ bezeichnet wird, von deren zurückhaltendem Führer hingegen als „Bewegung der Freiwilligen“. Gülen betont, er ziehe aus alledem keinerlei persönlichen Profit. Sein einziger Besitz seien eine Decke, Bettlaken und einige wenige geschätzte Bücher. Er betont, er habe keinen Überblick darüber, „...in wie vielen Ländern diese Bewegung aktiv ist, und ich weiß auch nicht, wie viele Lehrer und Schüler sie zählt.“
Auf die Frage nach der Arbeit seiner Anhänger antwortet er: „Ich glaube, dass es nicht korrekt ist, diese Bewegung ‚Fethullah Gülen-Bewegung‘ zu nennen. Es wäre respektlos gegenüber vielen Menschen, die sich hingebungsvoll engagieren. Meine Rolle in dieser Bewegung ist sehr beschränkt, und es gibt keine Führung, kein Zentrum, keine Loyalität zu einem Zentrum und keine Hierarchie.“
Andere jedoch sagen, dass es mehr als 1.000 Schulen in über 110 Ländern und vielleicht 5 Millionen Mitglieder sind. Emre Celik, ein Türk-Australier und Präsident des Rumi-Forums, eines Gülen nahestehenden Instituts in Washington, besuchte vor kurzem eine der in aller Welt verstreuten Schulen auf der Insel Sansibar und weist darauf hin, dass in Afrika noch ähnliche mehr unterhalten werden. Die Schulen werden von wohlhabenden muslimischen Geschäftsleuten unterstützt. Es gibt mehrere solcher Schulen in den USA, eine sogar in Burma. Sie vermitteln islamische Werte, halten sich im Gegensatz zu Koranschulen aber an das offizielle Curriculum des Staates, in dem sie tätig sind, und akzentuieren moderne Wissenschaft und Technologie. Die Qualität der Ausbildung gilt als hoch, und die Plätze sind heiß begehrt.
„Gülen hat eine Menge Menschen inspiriert“, sagt Celik, der eine Informatik-Ausbildung genossen hat. „Menschen wie ich, die zur zweiten Generation der australischen Türken gehören, die türkische Diaspora, wir sind von seinen Ideen bewegt.“
In den späten 1990er Jahren geriet Gülens Bewegung mit der damals säkularen Regierung der Türkei aneinander. Gülen begab sich zur medizinischen Behandlung in die USA (er leidet an Diabetes und Herzproblemen) und blieb dort, als ihn ein türkischer Staatsanwaltschaft beschuldigte, den Sturz der säkularen Macht zu betreiben. Eine Tonbandaufnahme tauchte auf, auf der Gülen seine Anhänger scheinbar dazu aufforderte, sich in staatliche Institutionen ‚einzuschleichen‘, „...bis ihr in alle Zentren der Macht vorgedrungen seid“. Doch besteht er selbst darauf, dass seine Worte damals manipuliert wurden, und letztlich wurde die Anklage fallengelassen.
Beobachter sagen, dass einige Funktionäre in der amtierenden Muslim-freundlichen Regierung Gülen-Anhänger sind - genau wie auch viele Polizisten, wie die verlässliche Publikation Jane’s Islamic Affairs behauptet; der Einfluss erstrecke sich bis hinein in die Abteilung des mächtigen Inlandsgeheimdienstes der Polizei. In einer Zeit, in der sich die Türken intensiv mit Abhörskandalen auseinanderzusetzen haben, ist dies ein hoch sensibles Thema.
In der Türkei, wo die Bewegung stark ist, ist bei Gülens Anhängern eine sekten-ähnliche Hingabe zu beobachten. Ein geheimnisvoller Schleier umgibt die Tätigkeiten und die Führungs-Hierarchie der Bewegung. Seine Gegner machen geltend, dass seine Anhänger in der Türkei ihren Weg nicht nur in die Reihen der Polizei gefunden haben, sondern auch in die Justiz. Sie seien die treibende Kraft hinter einem immer weiter um sich greifenden Gerichtsverfahren gegen die schärfsten Feinde der vom Islam inspirierten Regierung. Unterstützer von Gülen bestreiten den Vorwurf.
„Dies ist keine Form des Islams, die Schutzräume für die Schwachen und Ausgegrenzten schaffen will, sondern ein Islam, der Kontrolle und Macht anstrebt, ähnlich wie das Opus Dei“, so Hakan Yavuz, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Utah, der über die Bewegung geschrieben hat. Das Opus Dei ist eine ultra-konservative katholische Organisation. Ein langjähriger Beobachter hingegen hat eine freundlichere Deutung parat: „Die Polizei-Akademie ist eine der besten und angesehensten Bildungsinstitutionen in der Türkei“, sagt Hochwürden Thomas Michel, ein Jesuit und ehemaliger hochrangiger Berater für islamische Angelegenheiten im Vatikan, der heute in Ankara lebt. Weil die Absolventen von Gülen-Schulen in Aufnahmeprüfungen häufig gut abschneiden, „...werden viele ihrer Absolventen angenommen.“ Diese Menschen seien in der Regel „...hoch motiviert, intelligent, angenehm - überhaupt nicht fanatisch, absonderlich oder wie Sektenmitglieder agierend.“
Gülen legt Wert darauf, zu betonen, dass seine Bewegung keine Posten anstrebt und zu jeder türkischen Regierung gleichermaßen Abstand hält - wie auch zu ausländischen Regierungen. Gleichwohl bestätigen einige Analysten, dass amerikanische Offizielle die Bewegung zumindest stillschweigend unterstützt haben. Grund dafür sei ihre Vermittlertätigkeit etwa in den turksprachigen Teilen Zentralasiens, wohin Gülen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Hunderte von ehrenamtlichen Lehrern entsandt hat.
„Diese Schulen bieten Jugendlichen Alternativen, damit sie sich nicht terroristischen Vereinigungen anschließen“, erklärt Helen Rose Ebaugh, Soziologin an der Universität Houston, die die Bewegung untersucht hat. Ein Verwalter der mit Gülen verbundenen Fatih Universität in Istanbul habe ihr anvertraut, dass Gülen der Auffassung, er akzeptiere von Saudi-Arabien offerierte Bildungs-Gelder, entschieden widerspricht, „...weil das zwangsläufig als Unterstützung seitens der saudischen Regierung interpretiert werde.“
Während die türkische Regierung Israel wegen des gewaltsamen Konflikts mit der Hilfsflotte für Gaza scharf verurteilt hat, kritisierte Gülen die Organisatoren der Flotte und sagte, sie hätten vorher die Genehmigung der Israelis einholen sollen, anstatt „...die Autorität herauszufordern“. (In einer E-Mail schreibt er, dass „selbst der schlimmste Staat und die schlechteste Regierung noch weitaus besser sind als Anarchie und Chaos“.)
Zwar mag er gelegentlich einige „positive Maßnahmen“ der türkischen Regierung unterstützen, doch unterstreicht er, dass „...dies nicht bedeutet, dass wir ihnen in irgendeiner Weise politische Empfehlungen geben, und unser Handeln wird auch nicht im Mindesten von ihnen beeinflusst.“ Nichtsdestotrotz könne keine Regierungspartei, sei sie nun religiös oder säkular, „...die Realitäten in der Türkei ignorieren“, sagt er in einem von einem Helfer übersetzten Kommentar: „Zahllose Menschen praktizieren den Islam, und die Moscheen sind jeden Tag voller Menschen.“ Gleichzeitig, so Gülen, müsse jede Regierung aber auch den religiösen Minderheiten Beachtung schenken, den nestorianischen Christen ebenso wie den Protestanten oder Juden.
Seit 1999 haben die aufgeregte Politik in der Türkei und die eigene schlechte Gesundheit Gülen auf seinem Anwesen in Pennsylvania, dessen Eingangstor rund um die Uhr bewacht wird, festgehalten. Dort beschränkt er sich weitgehend auf die Nutzung von nur zwei oder drei Zimmern eines großen schokoladenbraunen Gebäudes. In einem mit türkischer Kunst und Artefakten geschmückten Raum widmet sich Gülen intensiv dem Lesen - von Shakespeare über Kant bis hin zu den Sufi-Dichtern. Wenn seine Gesundheit es zulässt, stellt er sich alle paar Tage in einem großen Nebenraum den Fragen von Besuchern. Ein vor Blicken geschütztes ausgebautes Dachgeschoss ermöglicht es auch Frauen zuzuhören, ohne dass sie sich unter die Männer mischen müssten.
„In den USA“, so Gülen, „hoffte ich, von niemandem belästigt oder geschädigt zu werden, der radikale Ideologien aus der Türkei, Afghanistan, Pakistan oder anderen Ländern einschleppt. Ich bin Amerikas Gast.”
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