Kaufmann mit Kerze - Gülens Bewegung: Kann sich der Islam modernisieren?
Wer ist der wahre Repräsentant des Christentums, Franz von Assisi oder der Inquisitor Torquemada? Spricht sich sein Geist mehr in der Herrschsucht seiner mittelalterlichen Päpste aus oder in der Demut von Mutter Teresa? Darauf ist nur die Antwort möglich: Sowohl als auch und je nachdem. Es wäre jedenfalls nicht gerechtfertigt, einzelne der vielfältigen Phänomene, die unter dem Banner des Christentums laufen, weil sie einem nicht in den Kram passen, von der Betrachtung auszuschließen und ihnen die Zugehörigkeit abzuerkennen. Das Christentum hat in den vergangenen beiden Jahrtausenden das Beste und das Schlimmste der westlichen Welt hervorgebracht oder mindestens begleitet, es ist ein Globus, der sich zwischen den Polen der Liebe und des Hasses dreht, mit einem weiten Äquator des Pragmatismus in der Mitte.
Man tut gut daran, sich zu erinnern, wie es mit dieser historischen Heimat des Westens steht (die unsere bleibt, auch wenn wir uns weit davon entfernt haben), sobald wir es mit der großen Schwesterreligion des Islam zu tun bekommen. Wer ist der wahre Muslim - der Fundamentalist, welcher bomben und steinigen will - der weise, aufgeschlossene Kalif - der sich dem mystischen Tanz ergebende Derwisch? Auch hier muss gelten: nicht einer, sondern alle drei. Freilich ist die bange Frage, wer davon letztlich die Oberhand gewinnen wird, für den Westen eine wichtige und legitime: Denn mit dem Islam wird er es, so oder so, auf die Dauer zu tun haben, im Inneren als einer bedeutenden Minderheit, im Äußeren als seinem Nachbarn, dessen Bezirk sich entlang der Süd- und Ostflanke Europas über Tausende von Kilometern erstreckt.
Darum verdient die Gülen-Bewegung unsere besondere Aufmerksamkeit. Benannt ist sie nach Fethullah Gülen, einem türkischen Prediger und Intellektuellen (man weiß gar nicht recht, als was man ihn bezeichnen soll, denn dieser Typ von Meinungsführer existiert bei uns nicht), der mit seinen Reden und Büchern Millionen vor allem türkischer Muslime beeinflusst. Seiner Gefolgschaft hat er keine feste organisatorische Form gegeben, weiß er doch, dass diese durch äußeren Zugriff, den sie fürchten muss, leicht zu zerbrechen wäre; die Gruppen und Gemeinden, die sich auf ihn berufen, operieren auf eigene Hand, stehen aber in enger Verbindung. Gülen selbst, dem Sympathien seitens der gegenwärtigen türkischen Regierung von Tayyip Erdogan nachgesagt werden, der sich aber in einem gespannten Verhältnis zur alten kemalistisch-laizistischen Staatsräson der Türkei befindet, lebt heute in den Vereinigten Staaten, aus Gesundheitsgründen, wie es heißt, doch wohl auch, um die Konflikte in dem sich rasch und ruckhaft transformierenden Land nicht unnötig anzuheizen.
Zu besonderer Kraft ist die Gülen-Bewegung gerade in Deutschland erwachsen, wo sie Dutzende Schulen und Hunderte von Nachhilfe-Zentren betreibt. In letzter Zeit hat sie vermehrt versucht, sich der allgemeinen Öffentlichkeit bemerkbar zu machen, nicht zuletzt durch zwei Kongresse, die dieses Jahr in München und Potsdam stattgefunden haben. Der Tagungsband der Potsdamer Veranstaltung ist soeben erschienen, und zwar im katholischen Herder-Verlag ('Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen.' Hrsg. von Walter Homolka u. a. Herder Verlag, Freiburg, Basel und Wien 2010, 258 Seiten, 11,95 Euro). Schon der Publikationsort macht deutlich, dass die Bewegung sich nicht abschottet, sondern auf Öffnung zu anderen Religionen und Anschauungen setzt. Wer sich einen Einblick in dieses erstaunlich breite und starke Phänomen verschaffen will, erhält hier die willkommene Gelegenheit.
Das Vorwort beginnt: 'Eine friedliche Koexistenz von Menschen, insbesondere auch von Muslimen und Nichtmuslimen, setzt das Zueinander von Kulturen und Religionen voraus.' Auf diesen Ton bleibt der gesamte Band gestimmt. Der einführende Text von Bekim Agai gibt sich alle erdenkliche Mühe, die Aktivitäten der Bewegung transparent für ein größeres Publikum darzustellen, vor allem, um sie gegen die feindseligen Klischees, die in Bezug auf den Islam und die Muslime hierzulande zunehmend herrschen, abzusetzen. Die Gülen-Bewegung, wie er sie zeichnet, ist konservativ in ihrer Herkunft aus traditionellen islamischen Werten, individualistisch in der Art ihres Wirkens, diskret im Auftreten, tolerant in den Außenverhältnissen und realistisch in den Zielen. Kein Satz findet sich so häufig in dem Band wie das Zitat von Fethullah Gülen, besser als über die Dunkelheit zu klagen sei es, eine Kerze anzuzünden. Baut keine Moscheen, davon haben wir genug, baut Schulen! Das scheint das zentrale Anliegen der Bewegung. Denn allein durch Bildung und den ökonomisch-sozialen Aufstieg, den sie verheißt, hat der Islam eine Chance, von der beargwöhnten Peripherie ins Zentrum der Gesellschaften zu gelangen und sich dort zu bewähren.
Als 'transnationalen Lokalpatriotismus' bezeichnet Ercan Karakoyun die Strategie der Bewegung: Nur durch Teilhabe vor Ort könne es gelingen, den bislang mangelhaft eingebundenen muslimischen Bevölkerungsteil dauerhaft zu integrieren. Mit jener Deutlichkeit, die Thilo Sarrazin so gern vermisst, sagt der Referent: 'Der Staat ist nicht ein Feind, sondern die Heimat, in der man lebt. Die Demokratie ist nicht ein System, das gestürzt werden muss, sondern die sich vielfach bewährende Regierungsform. Terror und Gewalt sind keine Grundzüge des Islam, sondern diesen entgegengesetzt. Bin Laden ist kein Held, sondern ein Verbrecher.' Durch zwei Arten von Trägern hat sich der Islam über die Welt verbreitet: den Krieger im Heeresverband und den Kaufmann als Einzelperson. Die Gülen-Bewegung setzt klar auf den Kaufmann.
Fethullah Gülen selbst kommt mit einem kleinen Text zu Wort, fast versteckt gegen Ende des Buchs; aber man merkt sofort, dass er ein wenig anders klingt als das, was seine Jünger sagen. Diese sind voll des Eifers, die Vereinbarkeit der Lehre ihres Meisters mit der modernen westlichen Welt darzutun. Er selbst drückt sich zurückhaltender aus: 'Die Demokratie sollte den Horizont der Menschen erweitern. Sie sollte auch das Leben nach dem Tode in Betracht ziehen und nicht vergessen, dass der Mensch ein Geschöpf mit Bedürfnissen ist, die nicht mit seinem Tod enden. Wenn ihr dies gelingt, wird sie in ein Stadium der Reife eintreten, in dem die ganze Menschheit glücklicher sein wird als in der Gegenwart.'
Wie soll die Demokratie das anstellen, das Leben nach dem Tod in Betracht ziehen? Darüber schweigt sich Gülen aus; aber daran, dass sie nicht das letzte Wort behalten kann und sich der Transzendenz unterzuordnen hat, bleibt wenig Zweifel. Solche Äußerungen haben den Verdacht befördert, Gülen und die Seinen hätten neben ihren offenkundigen aufgeklärten Zielen noch eine zweite 'hidden agenda', in Wahrheit nahe sich im Schafspelz des Brückenschlages der Wolf der Theokratie.
So denkt die Angst. In Wahrheit dürfte es sich so verhalten, dass der Islam, oder gewisse Spielarten davon, den westlichen Gesellschaften gefährlich geworden ist nur nach Maßgabe seiner Schwäche. Schwach ist der Terrorist, der durch punktuelle Überraschung wettmachen will, was ihm an Einfluss in der Fläche fehlt; schwach sind die Mitglieder der abgekapselten und verschleierten Parallelgesellschaft, die sich ein Leben außer im Kokon nicht vorstellen können. Es hilft auch nichts, den Schwachen gewaltsam zwingen zu wollen, wie die eklatant fehlgeschlagenen Kriege in Irak und Afghanistan beweisen: Er weicht dem Druck gerade kraft seiner Schwäche aus. Im Umgang mit dem Islam hat der Westen nur eine realistische Hoffnung: dass jener aus eigener Anstrengung erstarken möge. Das kann nach Lage der Dinge nur durch nachholende Modernisierung geschehen. Die Gülen-Bewegung ist die wohl wirkungsmächtigste geistige Strömung in der Türkei der Gegenwart; und gerade dort hat dieser Prozess inzwischen machtvoller eingesetzt als in allen anderen vom Islam geprägten Ländern. Dieser Umstand, wenn schon kein anderer Grund, sollte dazu ermutigen, ihr das Vertrauen, um das sie bittet, behutsam zu gewähren.
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