Kann man im Zusammenhang mit den Vorstellungen der Bewegung von kulturellen Werten und Geschichte nicht von einer Art regressivem Utopismus sprechen?
Im Gegensatz zu Kulten folgt die Bewegung keinem anachronistischen Paradigma. Sie romantisiert die Vergangenheit nicht, aber in der Tat betont sie kulturelle Werte. Fethullah Gülen sagt dazu: „Der Vermittlung von kulturellen Werten wurde nur wenig Aufmerksamkeit und Bedeutung beigemessen, obwohl sie doch für die Bildung unverzichtbar ist. Wenn es uns eines Tages gelingt sicherzustellen, dass sie als wichtig eingestuft wird, werden wir ein wichtiges Ziel erreicht haben.“
Diese Betonung der kulturellen Werte wurde von Kritikern als ein reaktionärer Aufruf zur Rückkehr zur vorrepublikanischen Gesellschaft interpretiert - in soziologischen Begriffen als eine Art regressiver Utopismus. Der im türkischen Kontext verwendete Begriff lautet irticacı, zu Deutsch: rückschrittlich. Allerdings hat Fethullah Gülen diesen Vorwurf stets bestritten: „Das Wort Irtica bedeutet Rückkehr in die Vergangenheit oder Überführung der Vergangenheit in die Gegenwart. Ich aber bin ein Mensch, der sich nicht nur das Morgen zum Ziel gesetzt hat, sondern die Ewigkeit. Ich denke über die Zukunft unseres Landes nach und versuche zu tun, was ich kann. Ich habe noch nie etwas getan, was mein Land in die Vergangenheit zurückgeworfen hätte, in keiner meiner Schriften und Reden, mit keiner meiner Aktivitäten. Aber niemand hat das Recht, den Glauben an Gott, die Anbetung Gottes, moralische Werte und [...] zeitlose Werte als Irtica zu bezeichnen.“
Die Hizmet-Bewegung Hizmet hat ihre Identität nie mit Bezug auf die Vergangenheit definiert, nicht in ihrer formativen Phase und auch später nicht. Sie stützt sich nicht auf einen irrealen Mythos der Wiedergeburt. Ihr Handeln folgt keinem utopischen Appell mit religiösen oder ideologischen Konnotationen. Sie reduziert die Komplexität des modernen Lebens nicht auf eine einzige allumfassende Formel. Sie kennt verschiedene Analyseebenen und -methoden, deshalb macht sie nicht den Fehler, die Gesamtgesellschaft auf die sakrale Solidarität einer Gruppe zu reduzieren. Aufgrund ihrer religiösen Akzentuierung lässt sie sich nicht von äußeren Machtstrukturen vereinnahmen. Sie ist weder empfänglich für eine Marginalisierung (wie Sekten es sind) noch für eine Transformation in eine Mode oder Ware, die sich auf dem Markt als Betäubungsmittel für den Geist feilbieten ließe. Der Wettbewerb in den Dienst-Projekten und zwischen den Dienst-Projekten macht es unmöglich, dass sich die Bewegung in einen Zufluchtsort für einsame Menschen, in eine mythische Gralssuche oder in einen fanatischen Fundamentalismus verwandelt.
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