Halwa und `Uzla (Zurückgezogenheit [in Klausur] und Isolation)

Wörtlich mit, Einsamkeit und für sich allein leben' zu übersetzen, bezeichnen Zurückgezogenheit und Isolation (halwa und `uzla) sowohl den Rückzug eines Eingeweihten in die Klausur mit dem Ziel, seine Zeit unter Anleitung und Aufsicht eines spirituellen Lehrers der Verehrung Gottes zu widmen, als auch seine Reinigung von allen Arten von Unglauben, dunklen Gedanken und Gefühlen sowie von unpassenden Vorstellungen und Auffassungen, die ihn von der Wahrheit abkommen lassen.

Der Eingeweihte schließt die Tür seines Herzens hinter sich und sperrt alles außer Gott aus. Er spricht durch die Zunge seiner inneren Fähigkeiten zu Gott. Isolation ist eine Dimension der Zurückgezogenheit, Enthaltsamkeit eine andere. Den ersten Schritt in die Zurückgezogenheit tut man in vierzig Tagen, deshalb spricht man davon, sich einer vierzigtägigen Periode der Enthaltsamkeit zu unterziehen. Wenn der spirituelle Lehrer den Eingeweihten in die Zurückgezogenheit begleitet, führt er ihn zunächst in sein Ruhezimmer, wo er mit ihm betet und ihn dann verlässt. Der Eingeweihte führt in jenem Raum ein isoliertes Leben. Er ist völlig für sich allein und isst und trinkt nur wenig. In jenem isolierten Raum, der auch als Tür zur Nähe Gottes be-zeichnet wird, reduziert und diszipliniert er seine körperlichen Bedürfnisse und versucht, seine fleischlichen Gelüste zu vergessen. Er widmet all seine Zeit - Tag und Nacht - der Verehrung Gottes, der Meditation und Reflexion, dem Gebet, dem demütigen Bitten, etc.. Was die Aspekte Enthaltsamkeit und Vermeidung, andere Menschen zu treffen, betrifft, geht die Zurückgezogenheit in Klausur bis zur Frühzeit des Sufismus und sogar bis auf die großen Propheten zurück. Zahllose Propheten und rechtschaffene Menschen, insbesondere aber Muhammed, der Glanz der Mensch-heit, haben einen gewissen Teil ihres Lebens in Isolation verbracht. Ihr einstiges System von Zurückgezogenheit und Isolation wurde jedoch im Laufe der Zeit von einigen unerwünschten Neuerungen verzerrt. Die Isolation des Propheten Abraham, die 40-tägige Klausur des Propheten Moses, die Enthaltsamkeit des Propheten Jesus und die Rückzüge des letzten Propheten Gottes wurden zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Menschen nachgeahmt und dabei auch zum Teil abgeändert. Natürlich ist dies, solange es ein bestimmtes Maß nicht überschreitet, ganz normal. Schließlich ist auch die Zurückgezogenheit von Stimmungen, Temperamenten und spiritu-ellen Kapazitäten beeinflusst. Gerade weil dies so ist, können nur erfahrene spirituelle Meister wissen und entscheiden, wie lange und unter welchen Bedingungen sich ein Eingeweihter in die Isolation begeben sollte.

In den frühen Jahren seiner Initiation ging Mawlana Dschalal ad-Din ar-Rumi oft für vierzig Tage der Enthaltsamkeit in Klausur. Nachdem er aber einen wirklich voll-kommenen Meister gefunden hatte, gab er seine Zurückgezogenheit auf und suchte vielmehr die Gesellschaft von Menschen (dschalwa). Viele andere Menschen vor und nach ihm zogen es ebenfalls vor, mit Menschen zusammen zu sein, statt ihre Gesellschaft zu meiden. Enthaltsamkeit, eine der beiden Dimensionen der Zurückgezogenheit, die oben erwähnt wurden, beinhaltet, die fleischlichen Begierden zu kontrollieren und den Geist, der von der Vollkommenheit angezogen wird, anzutreiben. Nur Enthaltsamkeit zähmt die Lust des Fleisches und zwingt den Menschen, schlechten Anreizen und Neigungen zu widerstehen und sich den Anordnungen Gottes zu fügen. Nur durch Enthaltsamkeit übt sich der Geist in Demut und wird zu ,Erde', die fortan als ein ,Blumenbeet' fungiert:

Sei wie die Erde, auf dass Rosen aus dir wachsen. Denn nur die Erde kann dem Wachstum der Rosen dienen."

Enthaltsamkeit ermöglicht allen Menschen, in den Genuss gewisser Gunstbeweise Gottes zu kommen. Manchen Menschen gelingt es, ihr Wissen mit guten Moralvorstellungen und ihre religiösen Handlungen mit aufrichtigen und reinen Absichten zu schmücken. Im Idealfall ist ihr Umgang mit Gott und anderen Menschen von Wohlverhalten geprägt. Andere werden in der Beziehung zu Gott auf immer neuen Wegen hin und her geschleudert und suchen ständig nach Möglichkeiten, Ihm immer näher zu kommen. Wieder andere verbringen ihr Leben wie Libellen, die gerade ihrem Kokon entflogen sind, in der Gegenwart von spirituellen Wesen, die man als Schmetterlinge der Himmelswelt bezeichnen kann.

Ganz entscheidend für die Zurückgezogenheit in Klausur ist, dass der Eingeweihte nur Gottes Wohlgefallen anstreben darf und unablässig auf Zeichen der Gunst Gottes wartet. Er darf nicht untätig da sitzen, sondern muss das Auge seines Herzens offen halten und sich größte Mühe geben, nicht eine der Inspirationen und Geschenke Gottes, die seinem Herzen zufließen, zu verpassen. Er darf es außerdem nicht an der Höflichkeit und dem nötigen Anstand fehlen lassen, die der Anwesenheit in der Gegenwart Gottes angemessen sind. Die folgenden Worte von al-Makani Husayn Efendi bringen dieses Anliegen präzise auf den Punkt:

"Reinige den Brunnen deiner Seele, bis er vollkommen rein ist!
Richte deine Augen auf dein Herz, bis aus deinem Herzen
ein Auge wird!
Vergiss deine Zweifel und stelle den Krug deines Herzens
unter den Wasserstrahl jenes Brunnens!
Ist der Krug voll mit Wasser und spendet Vergnügen,
Wende dich von ihm ab und dem Besitzer
Seines Hauses zu!(1)
Wenn du es verlässt, kommt Gott ganz bestimmt zu
Seinem Haus.
Lass niemals den Teufel das Haus deines Herzens betreten,
Denn ist er erst einmal darin, ist es schwer,
ihn wieder daraus zu vertreiben!"

Es ist wirklich wahr, Gott ist absolut frei von den Beschränkungen von Zeit und Raum. Seine Beziehungen zu den Menschen finden auf den ,Senken' des Herzens statt. Aus diesem Grund müssen die ,smaragdgrünen Hügel' des Herzens ständig bereit sein, die Wellen Seiner Manifestationen zu empfangen. Nur dann kann den Worten Ibrahim Haqqis aus Erzurum zufolge "der ,König' des Nachts zu seinem Palast hinab steigen."

Gott, der Allmächtige, gab dem Propheten David die Anordnung: "Räume das Haus für Mich leer, damit ich in ihm wohnen kann!" Einige haben dieses ,Leerräumen des Hau-ses' als Reinigung der Herzen von allen anderen Betrachtungen als denen Gottes und als Abstand Nehmen von allen Beziehungen mit Menschen, die nicht dem Wohlgefallen Gottes dienen, beschrieben. Die folgenden Worte von Mawlana Dschalal ad-Din ar-Rumi drücken dies sehr schön aus:

"Jemand, der weise und sensibel ist, bevorzugt den Grund
eines Brunnens,
Denn die Seele findet Vergnügen am Rückzug
(bei Gott zu sein).
Die Dunkelheit des Brunnens ist besser als die
Angelegenheiten der Menschen in der Dunkelheit.
Jemand, der sich an den Beinen der Menschen fest hält,
hat es nie geschafft, seinen Kopf einzusetzen.(2)
Von anderen darf man sich lossagen,
nicht aber von dem Geliebten.
Einen Pelz trägt man im Winter, nicht im Frühling."

Ziel der Isolation ist es, das Herz von der Liebe zu anderen Menschen zu reinigen und immer in der Gegenwart des Geliebten zu sein. Daher betrachtet man diejenigen, die die Gegenwart Gottes auch in der Gegenwart anderer Menschen ständig spüren und die Einheit Gottes inmitten der Vielfalt immerzu wahrnehmen, als Menschen, die sich immerzu mit Gott in Klausur befinden. Andererseits ist die Isolation von Menschen, die zwar ihr Leben in Klausur verbringen, aber nicht in der Lage sind, ihre Herzen zu reinigen, nicht mehr als ein Trugbild.

Diejenigen, die spüren, dass sie sich ständig in der Gegenwart Gottes aufhalten, haben es nicht nötig, sich von ihren Mitmenschen abzusondern. Mawlana Dschalal ad-Din ar-Rumi zufolge stehen solche Menschen mit einem Fuß in der Sphäre der Anordnungen Gottes, während sie mit dem anderen Fuß die Welt durchmessen wie eine Kompassnadel. Ununterbrochen erfahren sie Aufstieg (zu Gott) und Abstieg (von Ihm, um Seine Befehle anderen Menschen zu übermitteln). Diese Art von Isolation wird von Propheten und rechtschaffenen Menschen anerkannt und bevorzugt.

Eines Tages fragte Gott, der Allmächtige, den Propheten David: "David! Warum isolierst du dich von den Menschen und ziehst es vor, allein zu sein?" David antwortete Ihm: "Herr! Ich verzichte Dir zuliebe auf die Gesellschaft von Menschen." Der Allmächtige aber warnte ihn: "Sei immer wachsam, aber halte dich nicht von

deinen Brüdern fern. Meide nur diejenigen, deren Gesellschaft dir nicht von Nutzen ist."


[1] Haus' steht hier für Herz, ,Besitzer' für Gott.
[2] Jemand, der sich beim Erreichen seiner Ziele auf andere verlässt, wird nie erfolgreich sein.

 

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