Warum begann die Offenbarung des Koran mit dem Befehl "iqra!" - "Lies!"?;

Als der angehende Prophet Muhammad begann, gewisse innere und äußere Anzeichen und Hinweise auf die ihm zugedachte Autorität und Berufung wahrzunehmen, legte er großen Wert darauf, allein zu sein. Er zog sich in eine Höhle des Berges Hira zurück, die sich an einem abgelegenen Flecken Erde in den Bergen um Mekka befand. Dort verbrachte er abseits der menschlichen Gesellschaft viel Zeit in spiritueller Zurückgezogenheit und gab sich Gebeten und Meditationen hin. Eines Nachts gegen Ende des Monats Ramadan um das Jahr 610 - Muhammad war damals 40 Jahre alt - erschien ihm der Engel Gabriel und forderte ihn auf: „Rezitiere! Er entgegnete: „Ich bin des Rezitierens nicht kundig." Daraufhin - berichtet Muhammad - „ergriff mich der Engel und umschlang mich solange mit seinen Armen, bis es mir unerträglich wurde. Dann ließ er von mir ab und forderte mich ein zweites Mal auf: ,Rezitiere!' Ich aber antwortete ihm: ,Ich bin des Rezitierens nicht kundig.' Da ergriff er mich erneut und umschlang mich solange mit seinen Armen, bis es mir unerträglich wurde, dann ließ er von mir ab und gebot mir: ,Rezitiere!' Und wieder sagte ich: ,Ich bin des Rezitierens nicht mächtig.' Dann umschlang er mich ein drittes Mal, ließ mich dann aber los und sagte:

Rezitiere im Namen deines Herrn, der erschuf, erschuf den Menschen aus geronnenem Blut! Rezitiere, und dein Herr ist sehr gütig, der durch die Schreibfeder lehrt, den Menschen lehrt, was er nicht weiß!(96:1-5)

Der Befehl Gottes, die Botschaft des Islam zu verkünden, beginnt mit dem erhabenen Imperativ „iqra!". Dieses arabische Wort (das aus der gleichen Wortfamilie wie das Wort qur’an stammt) wird im Allgemeinen mit ,Rezitiere!' wiedergegeben, bedeutet aber auch ,laut aufsagen' bzw. ,lesen'. Es ist an kein bestimmtes Individuum gerichtet und bedarf keines besonderen Anlasses. Über den Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm, wird die ganze Menschheit angesprochen. Denn der Prophet repräsentiert die Menschheit als Ganze in ihrer Beziehung zu Gott, indem er das große Gewicht dieses Imperativs hört und auf sich nimmt. Iqra ist somit ein allgemein gültiger Befehl, der für jeden von uns eine Tür zum Islam öffnet. Iqra verlangt von jedem von uns, dass wir in unserem Wesen und in unseren Handlungen nach dem Guten streben und dass wir einen Pfad betreten, der weg von der Fehlerhaftigkeit hin zur Tugend und zum Glück in dieser und in der nächsten Welt führt.

Iqra ist ein Befehl, die Zeichen zu ,lesen', die der Schöpfer in der Schöpfung platziert hat, damit wir Seine Barmherzigkeit, Weisheit und Macht besser verstehen können. Iqra befiehlt uns, die Bedeutung Seiner Schöpfung zu begreifen, indem wir unsere Erfahrung und unseren Verstand einsetzen. Gleichzeitig versichert uns iqra zweifelsohne, dass wir tatsächlich in der Schöpfung lesen können, dass die Schöpfung unserem Verstand zugänglich ist. Je besser wir lernen, in ihr zu lesen, desto besser werden wir verstehen, dass die erschaffene Welt ein einziges Universum ist, dessen Schönheit und Harmonie die Bewahrte Tafel (lauh mahfuz, im Koran in Sure 85:21 erwähnt) reflektiert. Auf dieser Tafel wird auf Geheiß Gottes hin alles aufgezeichnet - jede einzelne Minute von vor Beginn der Zeit bis über das Ende der Zeit hinaus.

Es gibt nichts, was Gott nicht erschaffen hätte. Jeder Einzelheit dieser Schöpfung - belebt oder unbelebt, Gegenstand oder Lebewesen - hat Gott die Funktion verliehen, eine ,Schreibfeder' zu sein, ein Instrument, das aufzeichnet. Dementsprechend hat jedes einzelne Teilchen protokolliert und wird auch weiterhin alles, was ihm widerfährt und was in irgendeiner Beziehung zu ihm steht, aufzeichnen. Dies gilt sowohl für Ereignisse, die von ihm ausgehen als auch für solche, denen es unterworfen ist. Der Einzige, auf den das nicht uneingeschränkt zutrifft, ist der Mensch.

Jedes belebte oder unbelebte Teilchen ist ein Buch, das seine Aufzeichnungen bewahrt und von ihnen kündet. Deshalb lautet unser Auftrag „Lies!", und nicht „Sieh!". Die Zeichen in der Schöpfung, sprich: diese Bücher, sollen von uns nicht nur passiv angeschaut, sondern vielmehr aktiv ,gelesen', von unserem Verstand analysiert und verstanden werden. In diesem großartigen Universum, in dem es von Teilchen nur so wimmelt, befindet sich eine umfangreiche Bibliothek für die Erziehung und Bildung des Menschen, der zwar Teil des Universums, aber dennoch etwas Besonderes ist. Zwar obliegt es auch dem Menschen zu protokollieren, d.h. zu schreiben, dem Menschen ist aber die besondere Ehre zuteil geworden, auch zu ,lesen'. Wie inhaltsreich dieser Imperativ iqra doch ist! Im Unterschied zu allen anderen Wesen der Schöpfung dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben, die Welt zu ,erfahren'. Unsere Würde verlangt vielmehr, dass wir sie auch ,kennen lernen'.

Die Wissenschaft studiert die Natur und die Funktionssysteme aller Dinge im Universum. Sie befasst sich mit der Harmonie und den Prinzipien, die im Universum vorherrschen. Wissenschaft sammelt Wissen, zum einen durch Beobachtung und Klassifizierung und zum anderen durch Erläuterung und Experimente. Die ausgewogene Ordnung, die feine, von der Größe unabhängige Wechselbeziehung aller mikrokosmischen oder makrokosmischen Elemente des Universums und die äußerst produktive Dynamik dieser Elemente (Tatsachen, die allesamt von der Wissenschaft bestätigt wurden) können keinesfalls auf einen bloßen Zufall zurückgeführt werden. Es muss ein Einzigartiges Oberstes Wesen geben, das dieses unermessliche Ordnungsgefüge und seine Gesetzmäßigkeiten ins Leben ruft und am Leben erhält. Die Existenz des Schöpfers und Erhalters ist mit Sicherheit beeindruckender, präsenter und für den Verstand realer als die Existenz all dessen, was Er erschafft und erhält.

Jedes Ordnungsgefüge oder System wird, bevor es seine Arbeit aufnimmt, durchdacht und geplant. Auch jedes architektonische Projekt entsteht zunächst im Kopf des Architekten, bevor dieser einen endgültigen und detaillierten Entwurf zu Papier bringt. Wenn wir uns (um unserem beschränkten Verstand auf die Sprünge zu helfen) die Bewahrte Tafel als einen solchen detaillierten Entwurf vorstellen, von dem die Worte des Koran künden, dann können wir das tatsächliche Universum als eine Reflektion dieses endgültigen Plans in der Welt der Zeit betrachten. Der Mensch ist kaum in der Lage, sich die Schöpfung als ein einziges Universum vorzustellen, geschweige denn den Entwurf für ein solches Universum nachzuvollziehen. Und schon gar nicht wäre er im Stande, selbst eines zu erschaffen.

Nein! Die Aufgabe des Menschen ist es zu lesen. Solange er liest, sucht er den ganzen Sinn aller Dinge. Natürlich scheitert er bei der Verwirklichung dieses Ziels. Er kann nur Fehler machen, aus denen er mehr oder weniger lernt und so eine Methode von Experiment und Irrtum entwickeln. Durch die laufende Überprüfung seiner Bemühungen strebt er danach, in der Vergangenheit begangene Fehler auszuschließen, und steigert die Genauigkeit und Verlässlichkeit seiner Kenntnisse beständig. Was für eine Art von Wissen ist es, das sich der Mensch so fleißig aneignet?

Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas nur anschaut oder es genau betrachtet. Etwas genau zu betrachten heißt aber noch lange nicht, auch damit vertraut zu sein und es zu verstehen. Ein rein äußerliches unterscheidet sich wiederum von einem umfassenden Verständnis, einem Verständnis, das sich darum bemüht, innere und äußere Aspekte einer Sache zu erfassen. Wer ein solches Verständnis besitzt, wird das ganze Wesen dieser Sache mit seinem ganzen Bewusstsein verstehen. Er wird nicht nur abwiegen, vergleichen und manipulieren, sondern die Dinge als Zeichen der Schöpfung begreifen. Entsprechend differenziert stellt sich das Abbild eines geringeren und das eines höheren Verständnisses dar. So kann zum Beispiel eine materialistische Wissenschaft, die auf Technologie basiert, nur ein gewisses Maß an Stärke hervorbringen, während eine Wissenschaft, die dem Spirituellen gegenüber aufgeschlossen bleibt, durch Kontemplation und Anbetung Gottes zur Weisheit gelangen kann. Ein weiterer Unterschied besteht zwischen Lernen und Lehre, zwischen der Fähigkeit, etwas ausschließlich für sich selbst zu beherrschen und zu verstehen, und der Gabe, es anderen zu ermöglichen, das gleiche Wissen und Verständnis zu erlangen. Ein letzter Unterschied existiert schließlich zwischen denjenigen, die lernen und lehren, um sich dem Schöpfer hinzugeben und Ihm zu vertrauen, und jenen, die lernen und lehren, um sich dadurch an die Illusion der Unabhängigkeit von Handeln oder Sein zu klammern.

Diese unterschiedlichen Arten und Abstufungen beim ,Lesen' der Welt existieren Seite an Seite und befinden sich in ständigem Fluss. Denn innerhalb des Universums gibt es bestimmte Gesetze und Kategorien, denen alles ihm innewohnende Sein und Handeln unterworfen ist. Diese Gesetze und Kategorien wurden vom Schöpfer eingesetzt, der auch ihr harmonisches Funktionieren lenkt und aufrecht erhält. Zu ihnen gehören:

  1. Eine Entwicklung von der Einheit zur Vielfalt, vom Einfachen zum Komplexen;
  2. ein Prozess des Entstehens, der Genese innerhalb der vielen gleichartigen, unterschiedlichen oder gegensätzlichen Elemente;
  3. eine dynamische und beständige Ausgewogenheit innerhalb der Vielfalt;
  4. Aufeinanderfolge oder Veränderung, der Transfer von Eigenschaften, Energie, Kraft oder Wissen vom Einen zum anderen;
  5. Erwerb, Verlust und Wiedererwerb bzw. Lernen, Vergessen und erneutes Lernen;
  6. Kampf und Ausdauer bzw. Energie und Engagement;
  7. Auflösung und Wiederherstellung bzw. Analyse und Synthese;
  8. Inspiration, die enthüllt und offenbart, Intuition, die durchdringend ist und Klarheit schafft.

Die Menschheit ist an all diese Bedingungen und weitere mehr gebunden. Zwangsläufig herrscht unter den Menschen, die sich in ihren Ideen und Glaubensvorstellungen, ihren Gefühlen und Einstellungen wie auch in ihren Handlungsweisen mehr oder weniger ähnlich sind, trotzdem eine große Vielfalt. Die bestehenden natürlichen Unterschiede und Gegensätze sind jedoch weder statisch, noch sinn- oder bedeutungslos.

Sie befinden sich vielmehr in einem dynamischen, fruchtbaren Gleichgewicht. Daher haben Menschen unterschiedliche (und sich ändernde) Einstellungen zu und Auffassungen von Themen wie Wissenschaft und Glauben. Man kann jedoch wohl mit Sicherheit davon ausgehen, dass es der Menschheit nicht gut tun würde, wenn sie sich ausschließlich um den Glauben bemühen und auf die aus der Wissenschaft erworbenen Kenntnisse verzichten würde. Genauso falsch wäre es aber auch, sich völlig wissenschaftlichen Erkenntnissen zu widmen und dabei den Glauben zu vernachlässigen oder ihm sogar ganz abzuschwören.

Da sich die Menschen selbst und die Umstände, unter denen sie leben, so sehr voneinander unterscheiden, ist es sogar denkbar, dass die Lehren des Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm, für eine gewisse Zeit aus den Augen verloren werden. Man wird sich jedoch mit Sicherheit wieder an sie erinnern und ihr Ansehen wiederbeleben. Nachdem die Zahl der Menschen und die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede so zugenommen hatten, war der Bruch mit den Traditionen und der Geschichte, d.h. eine Phase des Niedergangs und der Spaltung eine logische Folge; eine Phase der Bestandsaufnahme, eines Neuanfangs und des Wiederaufbaus der Geschichte und der Traditionen wird aber sicherlich folgen, ja, sie hat sogar schon begonnen. Ganz bestimmt können wir auf die Gabe der Inspiration, auf Momente unerwarteter Geschlossenheit und auf unvorhergesehene Errungenschaften hoffen.

Einen solchen Niedergang mit einem dann folgenden Wiederaufbau hat es bereits früher gegeben und wird es auch in der Zukunft geben. Die von Gott inspirierten Offenbarungsschriften, die Propheten und die Gesetze wurden uns, unter anderem um diesen Prozess zu bewahren, der Reihe nach gesandt. Der Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm, war mit einem Charakter gesegnet, der Komponenten der charakteristischen Vorzüge aller Propheten vor ihm in sich vereinigte. In seiner Person verschmolzen Weisheit und fundiertestes spirituelles Wissen mit dem Willen, kollektive Angelegenheiten voranzutreiben und maßgeblich zu regeln; er besaß die Kraft, die Herzen der Menschen zu inspirieren und ihre spirituellen Sehnsüchte mit der Kraft zu verbinden, die Differenzen zwischen den Menschen auszuräumen und eine bleibende Versöhnung zu stiften. Er war in der Lage, in individuellen wie auch in kollektiven Angelegenheiten das ideale Gleichgewicht zwischen der Forderung nach Gerechtigkeit und der Bitte um Erbarmen zu finden. Seine Biografie ist voll von Beispielen für ein langes Leiden, für nachsichtiges Verhalten und für Standfestigkeit auch bei Misserfolgen; sie kündet auch von Hilfsbereitschaft, Erfolgen und Siegen. Seine Ausdrucksweise war knapp, sachlich, einprägsam und geschliffen; sie kannte keine Schwächen: weder in dem, was er ansprach oder in der Art und Weise wie er etwas vorbrachte, noch in der Form, wie er auf bestimmte Anlässe reagierte. Und welch vielfältige Betätigungsfelder ihm seine Prophetenschaft bot: er war nicht nur der Übermittler des Koran, sondern auch die Quelle eines spirituellen Erwachens und einer großartigen und beständigen Zivilisation.

Wenn ein Muslim den Befehl iqra befolgt, erlegt ihm dies in mancher Hinsicht eine Verantwortung und innere und äußere Versuchungen und Kämpfe auf, die diejenigen anderer Religionen bei weitem übersteigen. Zweifellos bieten diese größeren Versuchungen eine Chance, sich Würde und Ehre zu erwerben. Denn sie bringen - wie das Vorbild des Propheten zeigt - eine wertvollere Harmonie unterschiedlichster Tugenden der einzelnen Individuen wie auch der Gemeinschaften hervor.

Jüngste Entdeckungen in der Physik, Astronomie, Chemie und Biologie haben bestimmten Versen des Koran eine neue Klarheit verliehen und so Teile der ganzen Wirklichkeit, die auf der Bewahrten Tafel verzeichnet ist, ans Licht gebracht. Fortschritte innerhalb der Wissenschaft werden Schritt für Schritt gemacht; denn das Universum bewegt sich auf dem ihm vorbestimmten Kurs und im Einklang mit der Erkenntnisfähigkeit, die den Menschen gewährt wurde, immer weiter. Natürlich wollen wir die Bemühungen und Leistungen der Forscher und Wissenschaftler zur Kenntnis nehmen und angemessen würdigen. Diese Leistungen sollten die Menschen jedoch nicht zu Undank und Überheblichkeit, den Wurzeln des Unglaubens, verleiten. Vielmehr sollten wir in unserem Streben nach Erkenntnis und bei der Anwendung unserer Erkenntnisse unsere Abhängigkeit vom Schöpfer und die Unentbehrlichkeit Seiner Führung nachdrücklich beteuern. Auf gar keinen Fall dürfen wir Menschen vergöttern, denn sonst werden wir im Stich gelassen und liefern uns dem menschlichen Machtstreben als einzigem Richter über unsere Angelegenheiten aus.

Dann würden Forschungsergebnisse und Errungenschaften der Wissenschaft immer unter der Kontrolle derjenigen Menschen bleiben, die sie nicht zum Wohle der ganzen Menschheit einsetzen, sondern für den kurzfristigen Vorteil eines kleinen Kreises von Menschen. Die Wissenschaft würde in diesem Fall zu einer Waffe, die sich gegen das religiöse Leben richten würde, und zu einem hilflosen Knecht von Ideologien, die einen selbstsüchtigen und mehr oder weniger atheistischen Materialismus vertreten. Wenn einem solchen Prozess nicht Einhalt geboten wird, kann er dem Standard des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens unter Umständen irreparable Schäden zufügen. Es besteht gar kein Zweifel daran, dass immer mehr Menschen im Zuge der Einführung neuer Technologien immer ungeduldiger, arroganter, unverantwortlicher und hartherziger handeln. Manche behaupten sogar, sie seien auf irgendeine Weise selbsterschaffen und deshalb auch niemand anderem als sich selbst gegenüber verantwortlich. Trotzdem haben sie es nicht geschafft, auch nur ihr eigenes Glück zu vermehren, und haben stattdessen nur immer größere Bedürfnisse entwickelt. Ihr Leben wird nun noch beschwerlicher, sorgenvoller und von immer teureren Luxusgütern diktiert; denn nur durch sie gelingt es ihnen, der Realität zu entfliehen. Diese Menschen erscheinen albern und erregen Mitleid, wenn sie vorgeben, sie hätten eine ,neue' Freiheit gewonnen.

Zum Teil wurden die Gesellschaften in der jüngsten Vergangenheit allein durch das unglaubliche Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts Opfer plötzlicher und weit reichender Veränderungen. Dabei waren sie sich ihres Handelns oft gar nicht richtig bewusst und konnten die langfristigen Konsequenzen kaum einschätzen. Menschliche Gesellschaften sind jedoch keine Laboratorien und Menschen keine Versuchsstücke, mit denen nur um des Experimentierens willen Experimente gemacht werden. Von essenzieller Wichtigkeit ist, dass die Beschäftigung mit der Wissenschaft, d.h. die menschliche Reaktion auf den göttlichen Befehl iqra,wieder mit einem nachdenklichen Leben vereint wird und dass wir neu lernen, mit vollem Bewusstsein, um eines wirklichen Verstehens und um der Weisheit willen zu ,lesen'.

Wenn uns dies gelingt, werden wir zunächst einmal die modernen Wissenschaften von der Nutzlosigkeit und vom nüchternen Formalismus, in die sie eingebunden sind, befreien und dazu beitragen, zumindest ihre philosophischen Grundlagen und ihre soziale und moralische Relevanz zu klären. Außerdem werden wir in der Lage sein, die wahre Spanne der menschlichen Kräfte Auffassungsgabe, Intellekt und Intuition zu demonstrieren und den Menschen das richtige Gleichgewicht und den sachgemäßen Gebrauch dieser Kräfte wieder bewusst zu machen. Dann wird jedes Individuum, das sein ganzes Wesen auf das Studium der Schöpfung ausrichtet, deren Zeichen mit religiöser Ernsthaftigkeit und voller Bescheidenheit lesen und sich ein Wissen aneignen, das für die ganze Menschheit zivilisierend wirkt und segensreich ist.

Dass wir auf diese Weise und für diesen Zweck lesen sollen, lässt sich dem folgenden Hadith gemäß nicht ernsthaft bestreiten: Das erste erschaffene Ding war die Schreibfeder, und das erste Wort der Offenbarung war iqra.[1]Mit dem ganzen Wesen lesen zu können erfordert jedoch, dass sich die inneren und äußeren Fähigkeiten gemeinsam der Erscheinungen bewusst sind und dass sie sich harmonisch auf diese konzentrieren. Jede Beeinträchtigung der inneren Fähigkeiten hat erhebliche Auswirkungen auf das richtige Funktionieren anderer Fähigkeiten.

Der Koran spricht von Blindheit, Taubheit und Stummheit, wenn er auf das Unbehagen des Geistes verweist. Denn die Zeichen der erschaffenen Welt erreichen den Verstand zuerst über die Augen, werden zuerst von diesen ,gelesen'. Das Gehör vernimmt vor allen anderen Sinnen die Klänge der Offenbarung und leitet sie an den Verstand weiter. Die Fähigkeit zu sprechen besteht schließlich darin, alles Gesehene und Gehörte zu erklären, wiederzugeben und weiter zu vermitteln, um ein tieferes Verständnis zu erlangen. Ein Mensch, dessen Innenleben kränkelt, wird von der Außenwelt nur das sehen, was sein unmittelbares Überleben oder sein Vergnügen berührt. Weder wird sein Gehör irgendwelche verständlichen Töne ausmachen (mit Ausnahme der bereits erwähnten, die sein unmittelbares Überleben oder sein Vergnügen anbelangen), noch wird er in der Lage sein, irgendetwas zum Ausdruck zu bringen. Er wird höchstens nach etwas rufen können, das er für sein unmittelbares Überleben oder für sein Vergnügen benötigt. So sehr er sich auch abmüht, er wird nicht in der Lage sein, die Zeichen zu lesen, die der Schöpfer im Universum platziert hat; er wird lediglich mechanisch zusammenhängende Körper und Oberflächen finden; und sein Verstand wird voll und ganz damit beschäftigt sein, Normen und Gesetzmäßigkeiten zu suchen, die ihm einen mechanischen Vorteil über diese Körper und Oberflächen verschaffen. Weil sein Innenleben verkümmert, werden alle Ressourcen der Kontemplation und des Mitgefühls das Individuum und seine Gesellschaften im Stich lassen. Hässlichkeit, Trivialität und Barbarei werden sich breit machen. Schließlich wird das Individuum seine unmittelbaren Bedürfnisse und seine Vergnügungen nicht mehr selbst in der Hand haben und stets unsicher, verängstigt und unzufrieden sein. Ein Mensch, der so kränkelt, ist in der Tat blind, taub und stumm; das weite Universum wird für ihn zum engsten aller Gefängnisse werden.

Iqra, der Befehl zu lesen, ist an das ganze Spektrum unserer inneren und äußeren Fähigkeiten gerichtet. Dieser Befehl wird auf taube Ohren stoßen, solange wir ihm nicht mit unserem ganzen Wesen und mit einem Gleichgewicht von Einsicht, Gefühl, Verstand und Intuition Folge leisten. Wir sollten uns bemühen, die Zeichen in der Schöpfung zu verstehen. Dabei sollten wir darauf achten, dass sich unser Verstehen auf die Tatsache gründet (und auch dementsprechend eingesetzt wird), dass Gott derjenige ist, der durch die Schreibfeder lehrt, der den Menschen lehrt, was er vorher nicht wusste. Iqra ist auch eine Aufforderung zu rezitieren, laut vorzutragen, das uns enthüllte spirituelle Wissen in Worte zu kleiden und Lob und Dank zu sagen.


[1] Ibn Hanbal, Musnad, 5, 317; Abu Dawud, Sunan, 16; Tirmidhi, Qada, 17 "
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