Sprache und Denken

Eine der grundlegenden Dynamiken in der Ausprägung einer Kultur ist die Sprache. Wie viel Geltung ein Volk besitzt, lässt sich messen an der Kraft und dem Reichtum seiner Sprache und seines Denkens. Was den einzelnen Menschen betrifft, so schützen ihn die perfekte Beherrschung einer Sprache und die damit einhergehende Fähigkeit, mit seinen Mitmenschen in einen Dialog zu treten, vor negativen äußeren Einflüssen. Die Sprache ist ein wichtiges Instrument zum besseren Verständnis des Kosmos und all dessen, was in ihm vorgeht - sowohl im Hinblick auf winzigste Details als auch in Bezug auf das große Ganze. Insofern beeinflusst die Sprache die Ausprägung unserer Kultur also in jeder Hinsicht ganz entscheidend.

Die Sprache ist aber nicht nur ein Hilfsmittel für Sprechen und Denken, sondern auch eine Brücke mit der überaus wichtigen Funktion, die Reichtümer der Vergangenheit in die Gegenwart zu transportieren und die Errungenschaften unserer Zeit der Zukunft zu übermitteln. Die kognitiven, intellektuellen und wissenschaftlichen Rücklagen und Reichtümer eines Volkes können nur dann überdauern, wenn eine Sprache existiert, die kraftvoll genug ist, um diesem Erbe gerecht zu werden und es anzunehmen - ein Erbe, das von den Vorfahren übernommen und in den Händen der Menschen von heute geformt wurde. Je facettenreicher und überzeugender sich ein Volk auszudrücken vermag, desto fruchtbarer ist sein Denken; und je fruchtbarer sein Denken ist, desto mehr Themen wird es finden, über die es sprechen kann.

Jede Gesellschaft hinterlässt, was sie heute spricht und denkt, und wird von künftigen Generationen daran gemessen. Dieser Prozess der Verwertung bewahrt ein gewaltiges Reservoir an Erfahrung und Wissen vor dem Austrocknen. Das Wissen und die Ideen der Vergangenheit werden so in den Dienst der Gegenwart gestellt. Mit dem Ziel, gleiche Fehler nicht noch einmal zu begehen und nicht auf Irrwege zu geraten, vergleichen die Völker der Erde das, was in der Vergangenheit für richtig oder falsch befunden wurde, mit dem, was in der Gegenwart als richtig und falsch gilt. Die Entwicklungsstufe, die eine Sprache erreicht hat, entspricht ihrer Fähigkeit, dem Denken Gestalt zu verleihen, und das Denken seinerseits kann die Sprache auf immer höhere Entwicklungsstufen heben.

Wenn es einer Sprache an der inneren Dynamik mangelt, die Bedürfnisse aller Zeiten artikulieren zu können, und wenn die Benutzer der Sprache deshalb für bestimmte Konzepte keine Worte finden, dann verliert diese Sprache die Unterstützung des Denkens und ihre Benutzer profitieren nicht länger von ihr. In einer Zeit der Industrialisierung, des globalen Kommerzes und des Onlinehandels sollte niemand auf Wörterbücher angewiesen sein oder auf das, was er in seinem näheren Umfeld hört und erfährt. Denn sonst wird er schweigen müssen und sich keine eigene Meinung bilden können. Wer den Anforderungen der Moderne gleichgültig gegenübersteht, wird nicht an gesellschaftlichen Entwicklungen teilhaben können.

Die Errungenschaften von gestern sollten als kulturelles Erbe bewahrt und heute genutzt werden. Denn die Ideale der Völker sollten sowohl aus historischen als auch aus zeitgenössischen gesellschaftlichen Dynamiken gewoben sein. Wer sich der Zukunft öffnen und die Moderne annehmen möchte, sollte sich dies unbedingt bewusst machen. Die Vergangenheit ist vergangen, und das trifft auch auf all ihre Bezugssysteme zu. Wenn wir nun aber mit hoher Geschwindigkeit nach der Zukunft greifen, dann erfordert das ein höheres Maß an Unterstützung, als unser Zuhause, unsere Familie und unsere Nachbarschaft bieten, selbst wenn uns dieses Umfeld für unsere praktischen Alltagsbedürfnisse genügen mag.

Wer sich nicht einlässt auf die Zeit, in der er lebt, und auf ihre Sprache und ihr Denken, wird unweigerlich Misserfolg über Misserfolg auf sich laden. So wichtig es ist, sich dafür einzusetzen, dass eine bestimmte Sprache und ein bestimmtes Denken überleben - nicht weniger wichtig ist es, diese Sprache und dieses Denken zum allgemeinen Gut der Menschen zu machen. Für Gesellschaften, die selbst nicht denken und nicht sprechen, werden andere denken und sprechen. In Versammlungen, in denen gesprochen wird, ohne zu denken, fällt die Logik der Redegewandtheit zum Opfer. Die Unglücklichen, die ihre Gedanken nicht in Worte kleiden können, sind Sklaven ihres Unvermögens.

Auch in der heutigen Zeit gibt es - wenn auch vielleicht nicht viele - selbstbewusste Denker, die ihre Gedanken klar und deutlich darlegen können. Doch in manchen Ländern sind diejenigen, die von außen betrachtet eine Elite zu bilden scheinen, ihrer eigenen Gesellschaft entfremdet. Die Mehrzahl der Menschen in solchen Ländern reagiert negativ auf sie, weil sie ihnen nicht trauen. Ihre Gedanken werden oft als bloße Fantastereien und aus dem Ausland importierte Ansichten wahrgenommen. Die Texte dieser Intellektuellen sind, da sie ganz anders denken als ihre Landsleute, in einer ganz eigenen Sprache verfasst. Wenn sie dann aber ihren Mund aufmachen, verspüren sie das dringende Bedürfnis, sich der Umgangssprache des Volkes zu bedienen. So reisen sie in ihren inneren Welten zwischen verschiedenen Polen hin und her und fühlen sich unterschiedlichen Sphären gleichzeitig zugehörig. Weder schlagen ihre Herzen im Gleichklang mit den Herzen ihrer Gesellschaft, noch gelingt es ihnen, die Beredsamkeit und Ausdrucksstärke ihrer Sprache voll auszuschöpfen. Es wäre wohl naiv, von solchen Leuten, die in ihrer eigenen Gedankenwelt in Widersprüchen gefangen sind, irgendwelche wertvollen Dienste zu erwarten.

Damit eine Sprache zu einem kreativen Kommunikationsmedium werden kann, muss sich die überwältigende Mehrheit einer Gesellschaft perfekt in ihr ausdrücken und widerfinden können. Allzu komplizierte Darstellungen, die die wahre Absicht hinter Anspielungen und Umschreibungen verstecken und alle erdenklichen Themen nur interpretieren, anstatt sie objektiv wiederzugeben, sind nun wirklich keine besonders angenehmen Präsentationsformen. Der Wert der Sprache liegt in ihr selbst, was auch bei vielen Wissenschaften der Fall ist; nur dürfte die Sprache sogar noch bedeutender sein. Jede Gesellschaft sollte ihre Sprache deshalb als ein Feld des Wissens betrachten, für das das Interesse der Menschen geweckt werden muss. Dafür sollte an vielen Fronten gleichzeitig gearbeitet werden: Beispielsweise sollten alle existierenden Wörter erfasst und auch mit Hilfe alter Handschriften einer sorgfältigen Analyse unterzogen werden. Die charakteristischen Merkmale einer Sprache sollten ebenso untersucht werden wie Methodik und Stilistik der Ableitung von Wortformen. Wörter und Idiome, die über viele Jahrhunderte hinweg verwendet wurden, sollten mit all ihren Nuancen und spezifischen Bedeutungen bekannt gemacht und genutzt werden. Ein Volk, das seine Sprache bewahren will, muss diese Punkte unbedingt beachten. Wenn es das tut, dann kann seine Sprache in ihren eigenen Prinzipien und Regeln ruhen - so reich, so sanft und so liebenswürdig eine Sprache nur sein kann. Eine solche Sprache kann sogar zur lingua franca (zur Verkehrssprache) ihres Zeitalters werden und sich dabei die ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten erhalten. Man wird sich ihrer mit Freude bedienen und sie von einer Generation zur nächsten weitergeben. Obwohl diese Erwartung weder in theoretischer noch in logischer Hinsicht übertrieben erscheint, ist sie nicht einfach zu verwirklichen. Sie Wirklichkeit werden zu lassen, stellt eine große Herausforderung dar. Denn die Tatsache, dass etwas logisch ist, bedeutet nicht, dass es zwangsläufig auch eintreten muss. Der Prozess von Entwicklung, Veränderung und Reifung gehorcht keinen festgeschriebenen Gesetzen - der Lauf der Ereignisse kann auch einem ganz anderen Weg folgen. In Zeiten permanenter Veränderung muss der Logik der Entwicklung Priorität vor der absoluten Logik eingeräumt werden. Die kontrollierenden Zügel müssen ein wenig gelockert werden, und der Bewegungsspielraum muss erweitert werden. Sonst werden Sprache und Denken, die ja beide lebendige Phänomene sind, erlahmen, verknöchern und ihre Seele verlieren. Die Sprache eines Volkes hat maßgeblichen Einfluss auf dessen Denken, Weltsicht und intellektuelle, geistige Struktur. Sie muss gepflegt werden, wenn sie über ihren historischen Wert hinausgehen und positive Entwicklungen in sich aufnehmen soll. Völker, die es schaffen, ihre Sprache weiterzuentwickeln und sie anpassungsfähig zu machen, während sie gleichzeitig den Wurzeln ihrer Sprache treu bleiben, sind die kommunikativsten Gesellschaften und auch die dynamischsten im Denken.

Die Beziehung zwischen Sprache und Denken umfasst auch kognitive und intellektuelle Betrachtungen über das Sein und die Ereignisse, die Verwandlung dieser Betrachtungen in Quellen der Information und eine konstruktive Herstellung von Querbindungen zwischen dem Kosmos und unserem Wissen. Die Zukunftsaussichten eines Volkes hängen stark davon ab, welche Erfolge in diesen Punkten erzielt werden. Weder sollten wir alles, was alt ist, der Vergessenheit überantworten, noch unser Gesicht der Vergangenheit zuwenden und dabei die Türen vor jeglichem Neuen verschließen. Nehmen wir also die Vergangenheit mit größter Aufrichtigkeit an und begrüßen gleichzeitig das Herannahen einer Zukunft, die neue Entwicklungen und Eindrücke verspricht. Vermeiden wir es, Konflikte zwischen Sprache und Denken zu konstruieren oder auch zwischen unserer Vergangenheit, die von erhabenen Erinnerungen ausgefüllt ist, und unserer Zukunft, für die wir so hart arbeiten. Opfern wir nicht das eine für das andere!

Die Wurzeln, die den Geist eines Volkes bilden, sollten mit Hilfe der Forschung ausgegraben und freigelegt werden. Gesellschaften sollten gelassen in ihren Wurzeln ruhen können, sie sollten aber auch alles dafür tun, über diese Wurzeln hinauszugehen. Machen wir uns also bewusst, dass Wiederbelebung notwendig ist, um zu überleben, und dass wir unser Leben so leben sollten, dass es Früchte trägt. Unsere Wurzeln liegen in Geist und Bedeutung. Diesem Rhythmus sollte unser Herzschlag folgen, und unser Blick sollte auf einen Ort jenseits des Horizonts gerichtet sein. Nehmen wir uns doch zum Ziel, unser Leben positiv zu gestalten, indem wir uns mit aller Entschlossenheit öffnen. Denn auf diese Weise ermöglichen wir auch künftigen Generationen zu leben - jenen Generationen, deren Wohlergehen wir uns verpflichtet fühlen sollten.

All jene, die sich der Aufgabe widmen, anderen Menschen eine Zukunft zu geben, und dafür keine Gegenleistung erwarten, dürfen sich gewiss sein, dass sie die inneren Tiefen des Lebens ausloten.

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