Hoffnung

Hoffnung

Wir befinden uns an der Schwelle zu großen und ernst zu nehmenden Veränderungen. Die Gesellschaft windet sich in Schmerzen ob der bevorstehenden Geburt neuer Dinge. Scharen von Menschen, die seit Jahren fern ihrer charakteristischen Lebenslinie zwischen tausendundeinem Paradox zerrieben werden, blicken der Zukunft äußerst besorgt und hoffnungslos entgegen. Die Herzen matt, der Verstand unvermögend, die Inspirationen getrübt.

Innerlich aufgewühlte Massen, die ihre Situation leid sind, die in ihren spirituellen Grundfesten derart erschüttert sind und deren Zukunft einem chaotischen Wirrsal gleicht, erhoffen sich Heilung ihrer Glieder und neuen Glanz in ihrem Herzen.

Dass sie einen geistigen Mentor und einen Beistand finden, von dem sie sich Anleitung zu Leben und Glück erhoffen und der ihnen mit Botschaften voll Glauben und Hoffnung gegenübersteht, ist für sie die eine Sache, von der das Fortbestehen ihres [geistigen] Lebens abhängt.

Hoffnung ist vor allem eine Sache des Glaubens. Ein gläubiger Mensch ist hoffnungsvoll und der Grad seiner Hoffnung entspricht der Tiefe seines Glaubens. Viele große Erfolge, die das Ergebnis eines festen Glaubens sind, werden deshalb auch von einigen als außerordentlich betrachtet. Eigentlich überwindet man den normalen Grad des menschlichen Seins, wenn Hoffnung, Tatkraft und Entschlossenheit in ein Herz voller Glauben dringen. Auf Menschen, deren spirituelles Leben noch nicht diesen Stand erreicht hat, wirkt dies außergewöhnlich.

Insbesondere wenn der Mensch das, woran er glaubt, gut gewählt hat und sich mit seinem Herzblut dieser Sache widmet, kann von einer Geisteshaltung der Hoffnungslosigkeit, Schwarzmalerei und Pessimismus nicht mehr die Rede sein.

Das Individuum erwächst mit Hoffnung zum Leben; die Gesellschaft erwacht mit ihr zu neuem Leben und tritt mit ihr in einen Prozess des Fortschritts ein. Daher kann man sagen, dass ein Individuum, das die Hoffnung verloren hat, eigentlich nicht mehr existiert und eine Gesellschaft ohne Hoffnung in sich erstarrt.

Hoffnung bedeutet, dass der Mensch seinen eigenen Geist ergründet und die ihm innewohnende Macht und Kraft aufspürt. Mit diesem Einfühlungsvermögen baut der Mensch ein Verhältnis zu seinem allmächtigen Schöpfer, der über alle Schöpfung erhaben ist, auf und zieht daraus die Kraft und Energie, die es ihm ermöglicht, alle Herausforderungen zu meistern. Auf diese Weise wird das Atom zur Sonne, der Tropfen zum Ozean, der Teil zum Ganzen und der Geist zum Odem des Kosmos.

Koryphäen der Hoffnung

In einer Zeit, in der sich sein Himmel verdunkelte, seine Entschlusskraft brach und er dem Tod ins Auge sah, raffte sich der ehrwürdige Prophet Adam in seiner Hoffnung auf und sagte: „Ich habe mir selbst [meinem Nefs] unrecht getan“ und erwachte zu neuem Leben. Der Satan hingegen geriet in dem Strom der Hoffnungslosigkeit, der sich wie Blut und Eiter aus seinem Herzen ergoss, ins Wanken und ertrank schließlich darin.

Jeder Herzensmensch bietet auf seinem Weg, den er mit der Fackel der Hoffnung beschreitet, der Flut die Stirn, ringt mit Stürmen und kämpft mit den Wellen. Die Hoffnung des einen gleicht einer Knospe vom Berg Dschudi[1], die eines anderen den Gärten von Irem[2], die eines dritten der Stadt Yethrib, die zu Medina wurde[3]. In diesem Sinn wurde jeder Held der Hoffnung zum Symbol seiner Gesellschaft und seines Volkes und gleichzeitig ein Heiliger vor Gott.

Ein berberischer Sklave, der von Hoffnung und Entschlossenheit berauscht den Säulen des Herkules zu neuer Berühmtheit verhalf, wurde zum legendären Helden der Länder in Übersee[4]. Und ein junger Befehlshaber, der ebenfalls in der Hoffnung hell wie ein Blitz erstrahlte, spielte mit den Zeitaltern [indem er eines beendete und ein neues beginnen ließ] und erlangte einen hohen Rang, der nur wenigen in der Menschheitsgeschichte zuteilwurde.[5]

Des Weiteren nehmen Glauben und Hoffnung in einer Ära, in der alles dem Ende entgegengeht, die Größe einer Nation sich beugen muss und ihr Stolz gebrochen wird, einen legendären Zustand ein. Der Tiefe des Glaubens entsprechend kann der Mensch, der diesen Zustand erreicht, der Welt und dem gesamten Kosmos die Stirn bieten, unbeirrt seinen Weg verfolgen, auch wenn seine gewohnte Ordnung tausendfach aus den Fugen gerät, und sogar in größter Not anmutig toten Seelen Leben einhauchen.[6] In der Hoffnung können weite Wege beschritten, unüberwindliche Ozeane[7] überwunden und nur in der Hoffnung kann Ruhe und Ordnung erreicht werden. Diejenigen, die in der Sphäre der Hoffnung unterliegen, werden auch im praktischen Leben als besiegt gelten. Wie viele haben sich schon heldenhaft und prahlerisch auf den Weg gemacht, um auf halber Strecke liegen zu bleiben, da es ihnen an Glauben und Hoffnung mangelte. Ein kleines Beben, ein vorübergehender Sturm, eine Sturzflut, die vorüberzieht – sie haben auch ihre Entschlusskraft und ihren Willen mit sich fortgezogen. Am meisten schmerzt der Gedanke an den Zustand all jener, die sich ihnen einst hoffnungsvoll anschlossen, um schließlich gemeinsam mit ihnen im Morast der Hoffnungslosigkeit zu versinken.

Etwas anderes kann man von Menschen, die die Wahrheit nicht gefunden haben und sie nicht lieben, eigentlich auch nicht erwarten. Es ist unvermeidlich, dass Personen, die ihre Hoffnung an Positionen und Ämter geknüpft und ihr Herz materiellem Reichtum und Besitz hingegeben haben und sich mit vergänglichen Dingen trösten, über kurz oder lang bitter enttäuscht werden.

Die Nacht einer Seele, die nicht verblassende Farben, das unauslöschliche Licht und eine nicht untergehende Sonne liebt, wird strahlen wie der Morgen und ihr Tag wird farbenfroh sein wie die Gärten des Paradieses.

Die Horizonte dieser Seele kennen keine Dunkelheit, denn Sonnen wandern an ihnen entlang und halten Wache. Wie der Wechsel der Jahreszeiten werden dort die bezauberndsten Landschaften zur Schau gestellt.

Jeder von ihnen gleicht einem stattlichen Baum, der seine Krone dem Himmel entgegenreckt und dessen Wurzeln tiefer und tiefer in den Boden eindringen. Weder Schnee noch die zerstörerische Kraft des Hagels noch Schneestürme, Orkane oder die versengende Hitze der Sommerwinde können ihm etwas anhaben. Diese Herzen, die der Ewigkeit anhängen und voller Hoffnung sind, kommen jederzeit mit Früchten in großen Mengen, ganz gleich, ob es Frühling oder Sommer, Herbst oder Winter ist, und erfüllen all das, was man von ihrer erhabenen Größe erwartet.

Wir als Gesellschaft bedürfen Wegweisern, die sich nicht unterkriegen lassen, vergebend und nicht nachtragend sind, entschlossen ihren Weg gehen und niemals die Hoffnung verlieren; wir bedürfen ihrer, so wie wir Brot, Wasser und die Luft zum Atmen benötigen.

Was nun diejenigen betrifft, die sich voller Begeisterung auf den Weg gemacht, aber ihre Wünsche nicht befriedigt gesehen haben, die entweder der Hoffnungslosigkeit verfielen oder anfingen, mit dem Schöpfer zu hadern – zwischen ihnen und uns liegen Welten. Dessen ungeachtet wird sich das große Rad der Welt niemals an den überkommenen Philosophien und miserablen Plänen dieser Jammergestalten ausrichten und sich nach ihnen drehen!

In diesen Tagen, in denen uns tausendundeine Knospe hoffnungsvoll zulächelt und tausendundein Same unter der Erde darauf wartet, dass im Frühjahr der Schnee zu schmelzen beginnt, wünschen wir allen Herzen, die mutlos geworden sind, Hoffnung!

Anmerkungen

[1] Eine Anspielung auf den Propheten Noah, der laut dem Koran nach der Flut mit seiner Arche auf dem Berg Dschudi (Cudi) in der heutigen Südost-Türkei landete.

[2] Der Prophet Hūd wurde zum Volk der Ad im heutigen Yemen gesandt. Das Volk der Ad war berühmt für seine prachtvollen Gärten.

[3] Eine Andeutung auf den Propheten Muhammed, der von Mekka nach Medina auswanderte und nach seinem Zuzug der Stadt ihren heutigen Namen gab.

[4] Gemeint ist Tariq ibn Ziyad, der die Straße von Gibraltar überquerte und den Grundstein für die 800-jährige muslimische Kultur in Andalusien legte, die von religiöser Toleranz geprägt war.

[5] Eine Anspielung auf Mehmet II. Die Einnahme Konstantinopels, die unter seiner Führung erfolgte, gilt als eines der wichtigsten Ereignisse vom Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.

[6] An dieser Stelle deutet der Autor auf Bediuzzaman Said Nursi hin, einen berühmten Gelehrten des frühen 20. Jahrhunderts. Er erlebte den Untergang des Osmanischen Reiches und den damit verbundenen Verlust fast aller bestehenden Institutionen im Lande. Trotz aller Strapazen während seiner fast 40-jährigen ungerechtfertigten Gefangenschaft, seines Exils und einer strengen Zensur vollbrachte er ein Meisterwerk der Koranexegese und wurde zu einer führenden Autorität seiner Epoche.

[7] Der hier angesprochene Ozean besteht im türkischen Original aus Blut und Eiter. Der Autor bedient sich oft dieser Beschreibung, wie auch im Kontext des Satans im Text weiter oben. Dieses Bild entstammt dem Vers 36 in der Sure Hāqqa.

Die Fontäne, JANUAR–FEBRUAR-MÄRZ 2017

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