Die Liebe zum Menschen

Die Liebe ist ein Elixier. Durch die Liebe lebt der Mensch, sie macht ihn glücklich und mit ihrer Hilfe macht er auch seine Mitmenschen glücklich. Im Wortschatz der Menschheit steht die Liebe für Leben; erst die Liebe ermöglicht uns, einander zu fühlen und wahrzunehmen. Gott, der Allmächtige, hat keine andere Verbindung erschaffen, die so stark ist wie die Liebe. Sie ist eine Kette, die die Menschen aneinander schmiedet.

Die Erde wäre ohne die Liebe, die sie lebendig und frisch hält, nicht mehr als eine Ruine. Die Liebe ist ein Sultan, der auf dem Thron unseres Herzens regiert; und niemand macht ihr diesen Platz streitig. Die Zunge und die Lippen, die Augen und die Ohren - sie alle haben nur so lange einen Wert, wie sie das Banner der Liebe tragen; allein die Liebe stellt in sich selbst und aus sich selbst heraus einen eigenen Wert dar. Das Herz, der Pavillon der Liebe, ist auf Grund der Liebe, die es trägt, unbezahlbar.

Wir alle wurden in einer Atmosphäre großgezogen, in der uns die Triumphe der Liebe vor Augen stehen und die Klänge der Trommeln der Liebe in unseren Herzen widerhallen. Unsere Herzen schlagen aufgewühlt, wenn wir die Flaggen der Liebe wehen sehen. Wir haben uns so sehr auf die Liebe eingelassen, dass unser Leben nun ganz von ihr abhängt und wir ihr unsere Seele überantworten. Wenn wir leben, leben wir mit der Liebe, und wenn wir sterben, sterben wir mit der Liebe. Mit jedem Atemzug fühlen wir die Liebe in unserem ganzen Wesen. Sie hält uns warm, wenn es draußen kalt ist, und bei Hitze ist sie unsere Oase.

In dieser verschmutzten Welt, in der das Schlechte überall lauert, gibt es etwas, dass unberührt und rein geblieben ist: die Liebe. Unter all den vergänglichen Schmuckstücken dieses Lebens gibt es eine Schönheit, die sich ihre Pracht und ihren Charme bewahrt hat: die Liebe. In keiner Nation und in keiner Gesellschaft dieser Welt gibt es etwas realeres oder dauerhafteres als die Liebe. Überall, wo der Klang der Liebe - sanfter und wärmer als ein Wiegenlied - erklingt, verstummen alle anderen Stimmen und Instrumente und vereinigen sich mit ihren schönsten und eingängigsten Melodien in der Versunkenheit in der Stille.

Die Schöpfung entspringt der Entzündung des Dochtes der Liebe, des Dochtes des ,Erkannt- und Gesehen-Werdens'. Wenn der Herr die Schöpfung nicht lieben würde, gäbe es keinen Mond, keine Sonne und auch keine Sterne. Die Himmel sind Gedichte der Liebe, und die Erde ist ihr Rhythmus. In der Natur ist der starke Sog der Liebe spürbar, und in den Beziehungen zwischen den Menschen sieht man, wie die Flagge der Liebe hoch gehalten wird. Wenn es in der Gesellschaft eine Währung gibt, deren Wert stabil ist, dann ist dies die Liebe; und der Wert der Liebe liegt in ihr selbst. Die Liebe wiegt schwerer als selbst reinstes Gold. Gold und auch Silber können ihren Wert in unterschiedlichen Märkten und an unterschiedlichen Orten verlieren. Aber die Tore der Liebe bleiben allen Arten von Pessimismus verschlossen. Nichts kann ihre innere Stabilität und Harmonie erschüttern. Nur wer von Hass, Zorn und Feindseligkeit zerfressen ist, versucht, der Liebe zu widerstehen und sie zu bekämpfen. Ironischerweise ist das einzige Heilmittel, das diese gefühllosen Menschen zu heilen vermag, die Liebe selbst. Neben den weltlichen Schatzkammern gibt es auch noch andere Kammern, die nur von den geheimnisvollen Schlüsseln der Liebe geöffnet werden können. Kein anderer Wert auf dieser Welt kann die Liebe überwältigen oder auch nur mit ihr wetteifern. Im Marathonlauf der Liebe hängen die Gefolgsleute der Liebe und Herzlichkeit die Kartelle von Gold, Silber, Metall oder anderer Objekte von Wert stets ab. Mögen die Besitzer materieller Reichtümer auch heute einen aufwendigen, pompösen Lebensstil pflegen, so wird doch der Tag kommen, an dem ihre Schatzkammern leer und ihre Feuer ausgebrannt sind. Die Kerze der Liebe hingegen brennt immer weiter. Sie spendet Licht und verströmt es in unsere Herzen und Seelen.

Die glücklichen Menschen, die vor dem Altar der Herzlichkeit niedergekniet sind und ihr Leben der Verbreitung der Liebe gewidmet haben, haben Worte wie Hass, Wut, Intrige oder Groll aus ihrem Wortschatz verbannt. Sie haben sich von allen Feindseligkeiten fern gehalten, auch wenn sie damit ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Bescheiden senken sie voller Liebe den Kopf, und grüßen nichts anderes als die Liebe. Wenn sie ihn dann heben, suchen die Gefühle der Feindseligkeit nach einem Hafen, in dem sie sich verstecken können; und die Gefühle des Hasses werden eifersüchtig, denn sie werden von der Brise der Liebe zurückgeworfen.

Der einzige Zauber, der den Tricks des Satans gewachsen ist, ist die Liebe. Die Gesandten und Propheten haben die von den Pharaonen, den Nimrods und anderen Tyrannen entfachten Feuer des Hasses und der Eifersucht mit nichts als der Liebe gelöscht. Rechtschaffene Menschen haben sich darum bemüht, die undisziplinierten und aufsässigen Menschen, die sich wie lose Blätter in alle Himmelsrichtungen verteilt haben, zu sammeln; sie haben sich der Liebe bedient, um ihren Mitmenschen Menschlichkeit nahe zu bringen. Die Kraft der Liebe war stark genug, den Zauber von Harut und Marut[1] zu brechen, und erfolgreich genug, um die Feuer der Hölle zu löschen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein Mensch, dessen Waffe die Liebe ist, keine andere Waffe benötigt. Die Liebe ist stark genug, auch eine Gewehr- oder sogar eine Kanonenkugel zu stoppen.

Unser Interesse an unserer Umwelt und unsere Liebe zur Menschheit - d.h., unsere Fähigkeit, die Schöpfung anzunehmen - verlangen von uns, dass wir unsere eigene Essenz verstehen und kennen, dass wir in der Lage sind, uns selbst zu entdecken und eine Verbindung zu unserem Schöpfer aufzubauen. Je weiter wir in die inneren Tiefen und die verborgenen Potenziale unserer Essenz vordringen, desto eher werden wir einsehen, dass andere Menschen die gleichen Potenziale wie wir besitzen. Weil jene inneren Werte direkt mit dem Schöpfer verknüpft sind und weil diese Reise den Respekt vor den inneren Reichtümern der Menschen weckt, werden wir darüber hinaus beginnen, alle Lebewesen aus ihrer eigenen Perspektive heraus und auf eine ihnen eigene Art und Weise zu betrachten. Der Grad unseres Verstehens und unserer Wertschätzung hängt davon ab, wie gut wir die Qualitäten und Reichtümer, die andere Menschen besitzen, erkennen können. Dieses Konzept lässt sich schön mit einem Gedanken resümieren, der auf einem Ausspruch des Propheten Muhammad basiert: Jeder Gläubiger ist der Spiegel eines anderen Gläubigen. Wir dürfen diesen Ausspruch aber noch erweitern: „Jeder Mensch ist der Spiegel eines anderen Menschen. Wenn uns dies gelingt, und wir die verborgenen Reichtümer der Menschen erkennen können, werden wir auch begreifen, in welchem Verhältnis diese Reichtümer zu ihrem Wahren Schöpfer stehen. Dann wird uns klar werden, dass alles Schöne, alle Herzlichkeit und alle Liebe im Universum Ihm gehört. Menschen wie Dschalal ad-Din ar-Rumi, die diese Tiefe spüren, erzählen uns von der Sprache der Liebe: „Kommt, kommt und schließt euch uns an, denn wir sind die Menschen, die ihre Liebe Gott widmen! Kommt, tretet ein durch das Tor der Liebe, schließt euch uns an, und setzt euch zu uns! Kommt, lasst uns in der Sprache unserer Herzen miteinander sprechen! Lasst uns geheime Botschaften austauschen - ohne Beteiligung der Ohren und Augen! Lasst uns ohne Lippen und Klänge zusammen lachen, lasst uns lachen wie die Rosen. Lasst uns einander sehen ohne Worte oder Geräusche, so wie wir sonst nur denken! Wir sind alle gleich, also lasst uns einander mit den Herzen rufen! Lippen oder Zunge brauchen wir nicht. Lasst uns so miteinander reden, während wir uns die Hände reichen!"

In der Kultur von heute ist es gar nicht so einfach, irgendwo ein so tiefes Verständnis dieser menschlichen Gefühle und Werte zu entdecken. Im griechischem oder lateinischen Gedankengut und auch in der westlichen Philosophie begegnet es uns nicht. Das islamische Denken betrachtet jeden von uns als eine eigene Manifestation eines einzigartigen kostbaren Metalls, als einen bestimmten Aspekt einer einzigen Realität. Die Menschen, die sich um gemeinsame Punkte wie die Einheit Gottes, den Propheten und die Religion versammelt haben, ähneln den unterschiedlichen Gliedmaßen eines Körpers. Die Hand konkurriert nicht mit dem Fuß, die Zunge kritisiert nicht die Lippen, das Auge sieht die Fehler des Ohres nicht, und das Herz kämpft nicht gegen den Verstand an.

Da wir alle Gliedmaßen eines einzigen Körpers sind, sollten wir Schluss machen mit dieser Dualität, die unsere Einheit verletzt. Wir sollten den Weg zur Vereinigung der Menschen frei machen; denn auf diesem großartigen Weg schenkt Gott den Menschen Erfolg in dieser Welt, und auf ihm verwandelt Er diese Welt in ein Paradies. Auf diesem Weg werden sich die Pforten des Himmels weit öffnen und uns einen warmen Willkommensgruß übermitteln. Geben wir doch alle Ideen und Gefühle, die uns auseinander reißen, auf! Gehen wir doch stattdessen aufeinander zu und umarmen einander!


[1] Zwei Engel, deren Geschichte im Koranvers 2:102 erzählt wird. Sie führten die Menschen in die Zauberei ein und warnten sie gleichzeitig vor deren Missbrauch.

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