Der niedergang des denkens

Der niedergang des denkens

Seit Jahren schon ist das Denken in unserer Gesellschaft[1] im Niedergang begriffen, und mit jedem Tag schwächt das immer deutlichere Versagen unseres Habitus, der unsere Haltung und unseren Stil kennzeichnet, unsere Gefühle und Gedanke ein Stück mehr. Symptome dieser Entwicklung sind hemmungslose Verlautbarungen, extrem aggressive Formulierungen, an Grobschlächtigkeit kaum zu überbietende Verhaltensweisen und ein Mangel an jeglichen Umgangsformen. Was die Gefühle und Denkweisen betrifft, auf deren Grundlage sich diese Ausschweifungen entwickeln können, so sind sie so finster wie die Absichten eines Skorpions.

Wem soll man zuhören, wem kann man vertrauen, auf welche Gedanken, Ideen und Meinungen ist Verlass? In der Arena von streitsüchtigen Geistern, die einzig auf abfällige Kritik und Zerstörung aus sind, werden selbst die unschuldigsten Gedanken und die stimmigsten Pläne und Projekte zwischen den erbarmungslosen Zähnen von Widerstand, Konflikt und Verfolgung zermalmt und anschließend verworfen, werden selbst die unantastbarsten Werte immer wieder mit Füßen getreten und zertrampelt.

Ich frage mich, was die Menschen in unserer Gesellschaft dazu treibt, menschliche Werte so geringzuschätzen. Was treibt uns dazu, einander zu Wölfen zu werden? Wer darauf hofft, dass uns ein solcher Umgang miteinander, ein solches Gebaren voranbringt, der irrt sich. Zu glauben, dass sich auf diese Weise hohe Ideale verwirklichen lassen, wäre wahrhaft ein Trugschluss. Aber leider haben wir uns über Jahre hinweg immer wieder getäuscht und unbegreifliche Fehler begangen. Und was noch hinzukommt: Wir begehen diese großen Fehler nicht nur, sondern präsentieren sie der Welt anschließend auch noch als große Erfolge. Zu den am weitesten verbreiteten Hirngespinsten dieser Zeit gehört das törichte Gerede davon, ein Vorbild für die Welt zu sein, das Antlitz der Welt zu verändern oder zumindest den Zustand im eigenen Land in Ordnung zu bringen. Auf der einen Seite brüstet man sich von oben herab mit solch hohen Töne, auf der anderen Seite winden sich dieses Land und seine unterdrückten Bewohner in den Klauen von Unruhe und Aufruhr.

In dieser chaotischen Situation wird es weder möglich sein, die Landkarte des Denkens der Welt zu prägen, noch die Not unserer eigenen Gesellschaft in Wohlergehen zu verwandeln oder ihr neue Horizonte zu eröffnen. Wenn aus den Ideen dieser Zirkel der Verzweiflung - von denen jede einzelne als wahnhaft und krampfhaft zu betrachten ist - überhaupt irgendetwas entstehen kann, dann meiner Meinung nach allerhöchstens Chaos, mit Sicherheit aber keine Erneuerung. Und wenn man davon ausgeht, dass alles bisher Geschehene heute bereits andeutet, was in Zukunft noch geschehen könnte, dann erübrigt es sich wohl, noch mehr Worte zu diesem Thema zu verlieren.

Keineswegs möchte ich behaupten, hier ein Thema zu behandeln, das besonders originell ist. In Gesprächen auf unterschiedlichsten Ebenen wurde es immer wieder diskutiert, und ich weiß nicht, wie oft es schon durch das Sieb von Diagnose und Befund gepresst wurde. Es hat bereits die klügsten Köpfe und die einflussreichsten Autoren beschäftigt, und eine Reihe von repräsentativen Umfragen gab es dazu auch. Auf mehreren Plattformen wurden Gutachten zu dem Thema erstellt, aber keines dieser Unterfangen lieferte Ergebnisse, die die Erwartungen erfüllen konnten.

Noch immer verschwenden viele Menschen ihre wertvollen Ideen und ihre Intelligenz, indem sie sie für diese kümmerliche Haltung opfern. Sie messen Gefühlen eine größere Bedeutung als Wissenschaft, Kultur, Mut und Logik zu und vergeuden ihr Leben damit, menschliche Werte zu bekämpfen. Diese Leute sind intellektuell inkompetent, sie sind auf der Herzensebene als absolut leer zu bezeichnen, ihr Urteilsvermögen ist voller Widersprüche, und es mangelt ihnen an Weisheit und Wissen; und wenn sie dann noch zu Unaufrichtigkeit, Kleinlichkeit und Geltungssucht neigen und stets auf ihre Position, ihren Status und ihren Vorteil bedacht sind, können sie wahrscheinlich gar nicht anders handeln. Da sollte man sich keine Illusionen machen. Das Unterfangen, den Punkt, auf den sich ihr Blick fokussiert, und das Ziel, das sie sich gesetzt haben, zu erreichen, verfolgen sie mit einem unstillbaren Verlangen, das sie permanent zu befriedigen suchen. Ab und zu sind sie zufrieden mit dem, was sie geschafft haben, viel öfter aber trauern sie verpassten Möglichkeiten hinterher. Sie ersticken nach und nach die erhabenen Gefühle ihres Geistes, von denen jedes einzelne als ein Geschenk für den Menschen betrachtet werden kann, was dazu führt, dass sie durch die Täler des Egoismus und der Ausschweifung geschleift werden.

Es kann absolut nicht die Rede davon sein, dass diese Menschen, deren Herz und Verstand verkümmert sind und die auch einen Großteil ihrer menschlichen Vernunft und Urteilsgabe, ihres Gewissens und anderer mit dem Gewissen verknüpften Gaben Gottes verloren haben, einen Beitrag zur Verbesserung der Welt und zum Wohlergehen der Menschheit leisten, ihrer Gesellschaft einen Dienst erweisen oder ihre Mitmenschen zu neuen Horizonten führen. Und zwar deshalb nicht, weil sie nie den Kontakt zu ihren inneren Tiefen gesucht und nicht begriffen haben, worin der Sinn ihres Seins besteht. Abgesehen davon haben sie vergessen, wie man liebt. Sie haben jeden Respekt vermissen lassen, Tugend als Hirngespinst abgetan und immer nur darüber nachgedacht, auf welche Weise und mit welchen Mitteln sie sich am besten bereichern können. Sie haben davon geträumt wie sie den Zenit des Wohlstandes erreichen können und wen sie dafür in den Ruin treiben müssen. Und selbst wenn sie Positives hätten bewirken wollen, wäre wahrscheinlich nichts Gutes dabei herausgekommen; denn noch nie oder zumindest nur extrem selten haben tugendlose und verderbte Naturen Dinge hervorgebracht, die untadelig gewesen wären.

Natürlich ist die Menschheit schon häufig genug Zeuge von Anomalien im Denken und Abweichungen im Geist geworden. Neu ist jedoch dieses Ausmaß an Beklemmung in der Gesellschaft. Es resultiert daraus, dass der Mensch von heute die ganze Kraft seiner Intelligenz und seine ganze Urteilsgabe seinem Ego und seinen Gelüsten unterordnet und mit aller Entschlossenheit einen Krieg gegen Recht und Wahrheit führt; und dies auch noch mit der festen Überzeugung, dass seine Intelligenz und die Wissenschaft alles ist, was er braucht.

Ich glaube nicht, dass die Menschen heute intelligenter und vernünftiger sind als früher. Im Gegenteil, ich denke, dass die Geistesgrößen und Meinungsführer von heute in mancher Hinsicht unvernünftiger und oberflächlicher sind als die Menschen in der entfernten und jüngeren Vergangenheit. Diesen standen zwar nicht einmal ein Zehntel jener Möglichkeiten zur Verfügung, die Technologie und Wissenschaft heute verheißen, und doch waren sie kompetenter, stärker und konsequenter. Allem Anschein nach war Kain ein effizienterer Mörder als die Mörder von heute, Nimrod ein ehrenhafterer Despot, Karun ein mutigerer und umsichtigerer Kapitalist, Pharao ein besonnenerer Tyrann, Sokrates ein disziplinierterer Denker, Leonardo ein feinsinnigerer und visionärerer Künstler, Shakespeare ein verführerischerer Literat mit größeren Träumen, Goethe ein noch talentierterer Erzähler, Nietzsche ein unnachgiebigerer Rebell und Sartre ein sorgfältigerer und kompromissloserer Analytiker des Egos. Ja, unabhängig davon, ob sein Ansatz gut oder schlecht war, verfolgte jeder dieser Männer seine ureigene philosophische Linie mit größerer Kühnheit und Umsicht als seine Pendants heute.

Weder die Intellektuellen von heute, die von sich behaupten, frei von Aberglauben zu sein, noch die spirituellen Autoritäten von heute, die meinen, die Religion und die Metaphysik in ihrer ganzen Tiefe verstanden zu haben, können ihren Vorgängern das Wasser reichen, obwohl sie doch so viele neue Möglichkeiten der Moderne besitzen. Hinzu kommt, dass die Materialisten, denen der Verstand auf die Augen gesunken ist und die nur noch im Materiellen nach Antworten suchen, und die Spiritualisten, die sich dazu berufen fühlen, alles und jedes auf seine spirituelle Essenz zurückzuführen, extrem oberflächlich in ihren Urteilen und hinsichtlich ihrer Willenskraft erstaunlich unentschlossen sind.

Im Hinblick auf den Respekt gegenüber den menschlichen Werten liegen sie hinter ihren Vorgängern zurück, und in ihren Wünschen und Anliegen sind sie äußert wankelmütig. Jeden Morgen lassen sie sich von einer anderen Strömung mitreißen, und jeden Abend sind sie von einem anderen Konzept fasziniert, ganz als wären sie Ebbe und Flut hilflos ausgeliefert. Manchmal Atheist und Nihilist, dann wieder Kapitalist und Liberalist. Zuweilen gefügig und voller Ehrerbietung gegenüber Mächten, die für sie unüberwindbar erscheinen, dann wieder vagabundierend und rebellisch. Aber stets unausgeglichen und schwankend. Diese Menschen laufen jederzeit Gefahr, von einer beliebigen Strömung ergriffen und in unbekannte Gefilde gespült zu werden oder in der Kelter irgendeines Fehlers zerquetscht zu werden. Und wenn die Winde des Schicksals es nicht gut mit ihnen meinen, werden diese Armseligen wie Herbstlaub hinfort geweht, ohne dass irgendjemand in der Lage wäre, sie zu retten.

Ich nehme an, dass diejenigen, die diese soziale Schieflage - vielleicht wäre es auch angemessener, sie soziale Paranoia zu nennen - erkennen und ahnen, was für eine Gefahr sie für die Zukunft in sich birgt, längst zu schaudern und zu zittern begonnen haben. Doch so sehr es sie auch schaudert, fußen ihre Lösungskonzepte doch stets nur auf Doktrinen wie Sozialismus, Kapitalismus und Liberalismus. Solange der eigentliche Grund für den Niedergang und die wahren Ursachen der Probleme nicht identifiziert sind, werden wir diesem Teufelskreis wohl nicht entfliehen können, wird die Gesellschaft keinen Ausweg aus ihren Krisen finden.

Nachdem sie ihre politischen Krisen bewältigt hat, wird sie von ökonomischen Krisen heimgesucht werden, und wenn sie ihre militärische Schwäche überwunden hat, wird ihre Verwaltung ins Chaos stürzen, und diese tödlichen Teufelskreise werden uns Zug um Zug ruinieren. Wenn wir unser Handeln in der näheren Zukunft an dieser Logik - oder richtiger: an dieser Unlogik - ausrichten, werden wir keinen Zoll vorankommen. Öffentliche Diskussionen und Konferenzen werden sich lediglich im Kreis drehen und immer wieder auf das Dilemma zurückgeworfen werden, dass man sich zwischen individueller Freiheit und staatlicher Macht entscheiden muss. Man wird nie über Fragen hinauskommen wie: Freiheitliche Ordnung oder autoritäre Ordnung? Kapitalistisches System oder sozialistischer Staat? Dann werden wir noch über eine Reihe von weiteren Dialektiken und logischen Kniffen diskutieren, bis sich irgendwann herausstellt, dass wir all die Jahre und Chancen verschwendet und uns immer nur um unsere Selbstsucht gedreht haben. Aus diesem Grunde möchte ich hier einige Maßnahmen präsentieren, die unsere Gesellschaft schon vor einigen Jahrhunderten hätte ergreifen sollen, die aber aus unerfindlichen Gründen nicht verwirklicht werden konnten:

In den vergangenen Jahrhunderten waren wir als Gesellschaft trotz dutzender Reformversuche nicht in der Lage, ein eigenes moralisches System auf der Grundlage unserer eigenen Kultur zu etablieren. Es ist uns nicht gelungen, unsere eigenen metaphysischen Vorstellungen zu entwickeln und zu systematisieren. Wir haben kein künstlerisches Konzept hervorgebracht, das unsere eigene Haltung gegenüber den Realitäten von Gott, Universum und Mensch widerspiegeln würde, und wir haben es nicht geschafft, ein System für Bildung und Erziehung zu entwickeln, das auf unseren spirituellen Grundanschauungen basiert.

Den Kern fast jeden moralischen Systems in der Welt bilden ein gefestigter Glaube, ein verinnerlichtes Freiheitsgefühl sowie ein umfassendes Verantwortungsbewusstsein. Und alle diese Punkte sind mehr oder weniger mit der Metaphysik verknüpft. In einer Gesellschaft, in der keine Glaubens- und Gewissenfreiheit herrscht, in der das Freiheitsgefühl der Menschen ausgelöscht wurde und in der kein Verantwortungsbewusstsein mehr in den Herzen existiert, kann von Metaphysik und Moralität keine Rede sein. Gesellschaften, die es versäumt haben, ihr eigenes Denksystem zu etablieren, und Individuen, die es versäumt haben, sich ihrer Identität auf der Basis solcher metaphysischer Betrachtungen zu vergewissern, büßen mit der Zeit zwangsläufig ihren Geist und ihren Glauben ein und sind langfristig kaum in der Lage, sich ihre Wurzeln zu bewahren.

Als Gesellschaft haben wir unsere reichlich sprudelnden, Leben spendenden Quellen, die uns im Laufe der Geschichte stets genährt haben, eigenhändig trockengelegt. Stattdessen haben wir uns darauf versteift, Dinge von außen zu importieren; so zum Beispiel jenes absonderliche Verständnis von Nation, das der Bevölkerung aufzuzwingen versucht wurde. Mit einer seltsamen Lebensphilosophie und einem seltsamen Kunstverständnis, das unseren Geist verletzt hat, haben wir das Gedächtnis der ganzen Gesellschaft zerrüttet. Wir haben unsere Fackel, die tausende von Jahren hell gebrannt hat, ausgelöscht und uns der Dunkelheit ergeben, als wären wir Fledermäuse.

Anstelle von dieser oder jener Philosophie brauchen wir ein wirksames Rezept, das uns den Geist, der uns abhanden gekommen ist, wieder zurückbringt, das uns aus dem Strudel der Ungewissheit reißt und uns eine neue Liebe zur Wahrheit beschert; ein neues Konzept des Wissens und der gedanklichen Tiefe, das unserem eigenen Verständnis von Moral Rechnung trägt. Bestandteile dieses Rezepts sind unsere eigenen, in Jahrhunderten des gesellschaftlichen Zusammenlebens herausgefilterten metaphysischen Betrachtungsweisen, unsere eigene auf das jenseitige Leben ausgerichtete Philosophie und unsere eigenen Stimmen und Atemzüge, die über die Achse der Propheten mit der Gott-Universum-Mensch-Wahrheit verknüpft sind. Vermutlich werden wir erst dann, wenn wir unsere abhanden gekommenen Werte zurückgewonnen haben, unseren eigenen authentischen Stil und unsere eigene authentische Haltung finden, unsere eigene Position selbst bestimmen und uns vom Niedergang des Denkens befreien können.

Die Fontäne, April-Mai-Juni 2016

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