Ich will gar nicht abstreiten, dass es in der Türkei ein religiös-reaktionäres Element gibt; aber es wird überschätzt
Welchem Zweck dient es, wenn eine Zeitung ein Foto veröffentlicht, das Sie Seite an Seite mit Tayyip Erdogan zeigt? Möchte sie damit die Regierung, Sie oder Sie beide treffen?
Ich denke, Letzteres ist richtig. Wir [Erdogan und ich] handeln nicht gemeinsam, pflegen keinen gemeinsamen Stil, haben keine persönliche Beziehung und stehen einander auch nicht nahe. In einigen Kreisen galt ich als bewiesen Schuldiger; und so sieht man es dort auch nach wie vor. Es gibt Dinge, die seit 40 Jahren behauptet und in aller Öffentlichkeit verkündet werden. Sie alle wurden widerlegt. Sie [die Schuldigen] haben für den Schaden bezahlt. Aber ihre [widerlegten] Behauptungen wurden im Fernsehen und in den in der Türkei erscheinenden Zeitungen verbreitet. Doch damit gaben sie sich noch lange nicht zufrieden. Sie haben ihr Leben auf Hass und Missgunst aufgebaut. Sie glauben, dass sie ihre Positionen ohne Hass und Missgunst nicht werden halten können. Ich habe immer höflich reagiert und angeboten, in einen Dialog zu treten. Ich habe mich sogar um Termine bei jenen bemüht, mit denen ich im Streit lag. Erst sagten sie zu, später dann weigerten sie sich und sagten: „Lasst ihn nicht kommen. In der Zeitung wurde alles verdreht. Ich hingegen bin meinerseits mit offenen Armen auf sie zugegangen und habe ihre Hände geschüttelt. Ich habe ihnen gegenüber keine bösen Gedanken gehegt. Im Gegenteil, auf Grund meiner Freundlichkeit und meiner Höflichkeit habe ich mir den Unmut einiger meiner engsten Freunde zugezogen.
40 Jahre lang habe ich zu verstehen versucht, wie eine Person mich auf übelste Weise attackieren, beleidigen und anlügen und zudem behaupten kann: „Wir kennen ihn", ohne mich auch nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen zu haben. Ich habe nicht gesagt: „Dieser Mensch ist paranoid." Ich habe nicht gesagt, dass es Beweise dafür gibt, dass er auf ein Hoteldach gestiegen ist und den Leuten Exkremente auf den Kopf geworfen hat. Ich habe nicht gesagt: „Er war in einer psychiatrischen Anstalt." Ich habe auch nicht gesagt, dass in den Polizeiakten vermerkt ist, dass er einen Freund denunziert hat, der Kommunist geworden ist. So etwas entspricht nicht meiner Natur. Doch egal was ich sage, enthüllt irgendwann jeder selbst seinen wahren Charakter. Sie benehmen sich so, wie sie sind.
Doch dass sie sich so benehmen, wie sie sind, hält mich nicht davon ab, mich meinerseits zu benehmen, wie ich bin. Unabhängig davon, was ich glaube, werde ich immer denken und sehen; ich werde die Menschen respektieren, Lügen vermeiden und Beleidigung als Kufr betrachten. Ich werde auch nicht zögern, meine legitimen Rechte in rechtlichen Angelegenheiten zu verteidigen. Anwälte werden Prozesse mit dem Ziel der Richtigstellung anstrengen, möglicherweise sogar Schadensersatzklagen. All dies wird so kommen, und es wurde ja auch schon gemacht. Es wird wieder geschehen.
Glauben Sie, dass jene Person eigenverantwortlich agiert, oder steht hinter ihm eine Organisation?
Zuerst war er wohl allein, getrieben von seinen Gefühlen. Ich glaube jedoch, dass inzwischen hinter ihm eine Gruppe steht. Sie erhielten von einigen Orten Unterstützung. Beim Prozess im Juni haben sie versucht, diese Angelegenheit ganz zu einem Ende zu bringen. Dies verlangt ihre Haltung gegen die Religion. Hinter all dem steckt Feindseligkeit gegen die Religion. Ich will gar nicht abstreiten, dass es in der Türkei ein religiös-reaktionäres Element gibt; aber es wird überschätzt. In der Türkei wird darum ein großer Wirbel veranstaltet. Dieses religiös-reaktionäre Element wird aufgebauscht und schauderlicher dargestellt, als es in Wirklichkeit ist. Es gibt Kreise, die sich dieses religiös-reaktionären Elements bedienen, um in anderen Menschen Paranoia zu schüren.
Was zeichnet dieses religiös-reaktionäre Element, von dem Sie hier sprechen, aus?
Irtidscha [die Rückkehr zum Alten] ist ein arabisches Wort. Es bedeutet, die Menschen zum Vergangenen zurückzuführen. In der Türkei ist mir jedoch nicht ein Mensch begegnet, der die Türkei ins Mittelalter zurück führen wollte; selbst in den Dörfern nicht. Bildung und Lernen genießen überall großes Ansehen; ebenso wie die Forschung. Selbst die einfachen Menschen und die Dorfbewohner preisen die Höheren Schulen und deren Schüler, die an Bildungsolympiaden teilnehmen. Wir leiden an einem Komplex. Wir betreiben keine Wissenschaft und entwickeln auch keine Technologien. Auch zu einer Renaissance kommt es in unserem Land nicht. Aber diese Kinder erschüttern unsere Gefühle und Gedanken [in Bezug auf diesen Komplex]. Das sagen Dorfbewohner ebenso wie Stadtbewohner. Wenn sich das, was sie als religiös-reaktionäres Element bezeichnen, auf Menschen bezieht, die ihren Kopf verhüllen, dann hat es das doch schon immer gegeben. Das gab es in der Atatürk-Ära und auch in der Ära Ismet Paschas. Aber die Menschen sind heute besser ausgebildet als früher. Früher wurde gefragt, warum Frauen nicht in den Genuss von Bildung kommen sollten. Heute sind sie gebildet. Einige von ihnen tragen Kopftuch. In dieser Frage habe ich meine eigenen Gedanken zum Ausdruck gebracht: Wenn jemand sein Kopftuch abnimmt, wird er dadurch nicht zum Ungläubigen. Dieses Thema gehört zu den Furu'at [den sekundären Glaubensangelegenheiten]. Diese sind von den Grundprinzipien des Glaubens zu unterscheiden. [Das Kopftuch abzulegen] heißt nicht, die Säulen des Islam nicht zu akzeptieren. Ich denke, dass diese Äußerungen die Menschen in einer sehr angespannten Situation, in der allseits Nervosität herrschte, beruhigt haben. Aber es gibt eine Strömung, die sich durch nichts besänftigen lässt.
Abgesehen davon meine ich, dass sie Tag für Tag weiter an den Rand gedrückt werden. Das gibt ihnen Anlass zur Sorge. Je weniger sie werden, desto mehr Unsinn reden sie. Die Menschen denken nicht wie sie. Muslime denken darüber nach, Europäer zu werden, Kopf an Kopf mit der Welt zu gehen. Aber das wollen sie nicht. Sie können den Erfolg der Gläubigen nicht verkraften. Das ist ganz offensichtlich.
Würden Sie sagen, dass dieses religiös-reaktionäre Element, von dem Sie hier sprechen, aus dem muslimischen Teil der Gesellschaft stammt oder von außen?
Ja, es gibt ein religiös-reaktionäres Element. Vielleicht gibt es unter den Muslimen einige, die so denken. Ich weiß es nicht. Wie viele Menschen sagen heute: „Lasst uns nicht mit Europa zusammengehen"? Mustafa Kemal Atatürk sprach von einer ,modernen Zivilisation'. Heute gibt es niemanden unter denen, die in die Moschee gehen, der sagt: „Lasst uns nicht so sein. Lasst uns nicht modern sein. Früher war es besser." Und in den Moscheen äußern sich die Muslime doch schließlich. Dort beten sie, und dort kommen sie zusammen. Ich meine, die Menschen können Veränderungen verkraften, solange sie selbst an ihnen mitwirken. Kommen diese Veränderungen jedoch von außen, können sie sie nicht verkraften. Und ohne zu zögern sage ich: Wenn gläubige Menschen eine Leiter in den Himmel legen würden, dann würde es einige Muslime geben, die zwar den Wunsch hätten, in den Himmel zu gelangen, diese Leiter aber dennoch nicht besteigen würden, weil sie von jenen anderen Gläubigen aufgestellt wurde. Diese Leute sind stur und starrköpfig.
In einem ihrer Unterhaltungsgespräche sagten Sie, dass im sunnitischen Glauben das Konzept der Taqqiya [Vortäuschung eines religiösen Bekenntnis] nicht existiere. Im schiitischen jedoch existiert es.
Auch im schiitischen Glauben sollte es nicht existieren. In der heutigen Zeit steht Taqqiya für Täuschung. Es bedeutet, anders gesehen zu werden, als man in Wirklichkeit ist, in einer Diskussion etwas zu behaupten, in Wirklichkeit aber etwas anderes zu meinen. Das nennt man Taqqiya. Unser Prophet (Friede sei mit ihm!) hat uns verboten, Menschen zu täuschen: „Menschen, die täuschen, gehören nicht zu uns." „Zu täuschen, ist nicht unsere Sache." Daher ist für die Taqqiya im islamischen Denken kein Platz. In der schiitischen Tradition wurde jedoch eine Aussage überliefert, die lautet: „Wenn du diejenigen, die nicht zu uns gehören, nicht täuscht, kannst du kein Schiit, kein Muslim sein." Man beachte, dass diese Aussage Imam Cafer Sadik zugeschrieben wird. Sie stammt jedoch aus unzuverlässiger Quelle. Imam Cafer ist für sie [die Schiiten] ein sehr bedeutender Imam. Er gehört zu den Ahl al-Bayt [zu den nächsten Verwandten des Propheten]. Er war älter als Abu Hanifa, aber einer dessen Zeitgenossen. Man sagte sogar, er habe die Mutter Abu Hanifas geheiratet. Also war Abu Hanifa eine Zeit lang sein Sohn, und Imam Cafer lernte viel Dinge von ihm. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Imam eine solche Aussage macht.
Dieser Aspekt der schiitischen Tradition wurde in der jüngeren Vergangenheit auf alle Muslime übertragen. Wenn ein Mensch jedoch ein echter Muslim ist, täuscht er andere Menschen nicht. Er zeigt sich so, wie er ist. Vielleicht sagt er gar nichts, aber wenn er etwas sagt, sollte das wahr sein. Bediuzzaman Said Nursi sagte: „Alles, was du sagst, muss der Wahrheit entsprechen. Aber es ist nicht richtig alles, was richtig ist auch auszusprechen." Wenn man das unter Taqiyya versteht, dann übt sich jeder in Taqiyya. Wenn man z.B. einen blinden Richter blind nennt, dass ist das zwar korrekt; es aussprechen sollte man aber trotzdem nicht. Ein anderes Beispiel: Es ist möglich, dass ein Mann an der Spitze des Staates sein Amt nicht in angemessener Art und Weise ausfüllt, weil er seine Position nur unzureichend repräsentiert. Das mag zwar stimmen, aber diese Wahrheit auszusprechen, ist möglicherweise kontraproduktiv.
Als Kriegsstratege...
Der Krieg hat seine eigenen Gesetze... In unterschiedlichen Bereichen gelten hier andere Gesetze, z.B. um den Feind strategisch zu täuschen, um ihn in die Irre zu führen und um eine bestimmte Entwicklung vorzutäuschen. Im Kriegsfall gibt es Dinge, die unter normalen Umständen nicht erlaubt sind. Die Taqiyya jedoch darf nicht erlaubt werden. Sie zu gestatten hieße, eine schwache Haltung gegenüber dem Terror einzunehmen. Muslimen ist es verboten, irgendjemanden zu täuschen. Ein Muslim darf kein Betrüger sein. Er muss vielmehr jemand sein, der zu Vertrauen inspiriert.
Pflegen Sie Volkslieder aus Erzurum zu singen, wenn Sie sich niedergeschlagen fühlen?
Es gibt da einige Volkslieder, die ich kenne, weil ich sie oft gehört habe. Es ist aber nicht so, dass ich mich besonders für sie interessieren würde. Woran mir mehr liegt, ist die klassische türkische Musik, vor allem die Musik der Derwischorden. Sie höre ich von Zeit zu Zeit. Sie wirkt auf mich wie ein Murmeln. Ich meine Stücke von Niyazi-i Misri, Yunus Emre, vom Imam aus Alvar, vielleicht noch von Fuzuli, Seyyid Nigari oder Galip. Diese Art von Musik scheint mir tiefer zu gehen. Was meine Gefühlswelt heute betrifft, so bin ich geneigt mit den ,Sohbet-i Canan' [Gespräche der Liebenden] zu sagen: „Damit alles mit Ihm verknüpft sei, denn alles ist mit Ihm verknüpft, lasse zu, dass auch ich mich an Ihn binde." Bewusst oder unbewusst halte ich mich von einigen Dingen fern.
Das klingt als würden Sie viele Dinge, die Gott für halal [statthaft] erklärt hat, für sich selbst als haram [verboten] erachten.
Nicht direkt als haram; ich bevorzuge nur, mich mit Dingen zu beschäftigen, die auf meinen Rabb [Gott] schauen, und ich finde sie in mir selbst, in meinem Herzen und in meinem Geist schöner.
Gibt es Angehörige des Militärs, die sich für Ihr Leben interessiert haben und ein Treffen mit Ihnen aus guter oder böser Absicht heraus angestrebt haben?
Niemand ist mit bösen Absichten zu mir gekommen. Einige, die im Ruhestand leben, kamen. Aber ich möchte ihre Namen nicht nennen. Sie kamen lediglich zum Essen.
Waren es hohe Offiziere?
Es waren einige mit einem hohen Rang, aber nicht viele. Sie sind aufrichtige, bescheidene Menschen. Sie kamen auf einen Besuch vorbei, blieben ein paar Stunden und gingen dann wieder. Sie verfolgten keinerlei Absichten.
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