Unaufgeklärte Morde und der 28. Februar 1997: Vorher und Nachher
In der Vergangenheit haben Sie Aussagen gemacht wie: „Es werden Morde stattfinden, die nicht aufgeklärt werden. Diese Aussagen hat mit Geheimdienstberichten verglichen. Erst jüngst stand in einer Zeitung, dass Sie von allem, was geschieht, einige Minuten eher erfahren als der Präsident, der Premierminister und der Stabschef. Nazlı Ilicak hat einmal geschrieben: „Gülens Nachrichtendienst hat große Macht. Er hat den 28. Februar vorausgesehen." Ist Ihr Nachrichtendienst wirklich so mächtig?"
Ich unterhalte keinen privaten Nachrichtendienst. Als türkischer Bürger liegt mir aber das Schicksal meines Volkes sehr am Herzen. Jemand, der keine persönlichen Interessen verfolgt, verbringt all seine Zeit mit dem Thema, mit dem er sich beschäftigt. Ich höre jedem zu, der sich an mich wendet. Ich arbeite diverse Zeitungen durch und durchforste das Internet nach Neuigkeiten. Ich verfolge die Nachrichten, ziehe Schlussfolgerungen und fasse diese in Worte. Es gibt so viele Menschen, die reisen und sich umschauen, um dann zu berichten. Das geschieht im Internet. Warum soll das nicht auch über Email möglich sein? Jemand mag aus informierter Quelle etwas hören und darüber berichten: „Dieses und jenes ist geplant. Ich höre dann von mehreren Seiten unterschiedliche Dinge. Egal wie geheim etwas ist, dank der Kommunikationstechnologie werden Informationen heute extrem schnell übermittelt.
Haben Sie den 28. Februar wirklich vorausgesagt?
In Hinblick auf die Februar-Geschehnisse hatte ich mir, wie Nazli Ilicak schrieb, tatsächlich große Sorgen gemacht. Was meine Person betrifft, hatte ich mir sogar noch schlimmere Dinge vorgestellt. Die Regierung verfolgte eine Philosophie, die die Februar-Geschehnisse begünstigte. Diese Philosophie gedieh auf dem Nährboden von Auftreten und Handeln der Regierung. Heute betrachte ich meine Haltung damals als respektlos, denn nie zuvor hatte ich so etwas gedacht oder ausgesprochen. Ich fasste meine Ansicht in einem Fernsehprogramm in die Worte: „Sie haben es verpfuscht." Diese Worte brachten meine Befürchtungen zum Ausdruck.
Hatten Sie damals den amtierenden Machthabern Ihre Sorgen mitgeteilt?
Schon vorher hatte ich sehr viel getan. Ich habe meine Sorgen auf unterschiedliche Art und Weise auf verschiedenen Wegen einigen Ministern übermittelt. Ich habe gesagt: „Es ist sehr ernst. Es geht mehr vor sich, als Sie wissen. Die Toleranz ist aufgezehrt. Wir können als Volk nicht überleben, wir werden leiden."
Wie nahm man Ihre Warnungen auf?
Man scherte sich nicht darum. Man schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Mit Unterstützung dieses Volkes wurde viel Gutes bewirkt. Aber zu jener Zeit wurden Tore geöffnet, die es hätten zerstören können. Im Lichte dessen habe ich meine Gedanken nach außen getragen - ganz unabhängig davon, ob ich nun Recht hatte oder nicht. Wenn ich damals Recht hatte, habe ich nur meine Pflicht getan, meinem Volk gegenüber loyal zu sein.
Mit der gleichen Sensibilität [meinem Volk gegenüber] nehme ich auch heute Neuigkeiten auf und interpretiere sie, ziehe meine Schlussfolgerungen. Ich hoffe, dass es meinem Volk und meinem Land zu Gute kommt, wenn ich meine Meinung zu einigen Themen sage.
Haben Ihre Warnungen vor möglichen ungeklärten Morden ihr Ziel erreicht?
Erstens habe ich mit diesen Warnungen die Zuständigen in Geheim- und Sicherheitsdienst und im Jitem [Gendarmeriegeheimdienst] informiert. Wenn sie also ihre Pflichten erfüllen, werden sie diese Morde verhindern, noch bevor die entsprechenden Pläne überhaupt gereift sind. Zweitens werden die Verschwörer oder Provokateure, die man engagiert hätte, entweder irgendwelche Maßnahmen ergreifen oder aufgeben, wenn das Volk merkt, was hier vor sich geht. Unser Volk wird in jedem Fall profitieren. Ich hatte bereits früher diese Sorgen, und was dann geschah, hat mich bestätigt. In dieser Angelegenheit darf es keine Versäumnisse geben. Ähnliche Dinge sind ja schon passiert. Sind etwa keine Bomben vor einer Synagoge explodiert? Und sie werden auch weiterhin passieren in der Türkei. Dass Universitätsstudenten Äxte und Beile mit sich herumtragen, ist keine gute Nachricht. Was dann als Nächstes kommt, ist nicht zu übersehen.
Einige Leute kritisieren Sie dafür.
Gut, einige mögen sagen: „Halten Sie sich etwa für einen Geheimagenten? Warum um alles in der Welt beschäftigen Sie sich mit diesen Dingen? Wenn Sie Imam in einer Moschee sind, dann bleiben sie, wo Sie sind und benehmen Sie sich auch wie ein Imam. Diese Dinge gehen Sie nichts an." Diese Leute wissen aber nicht, was gut für sie ist, und was nicht. Meine Aussagen beziehen sich ja nicht auf sie. Jeder 66-jährige türkische Staatsbürger mit einer bestimmten Vergangenheit würde, selbst wenn er nicht belesen wäre und sich nicht groß Gedanken machen würde, mit unterdrücktem Unmut zu bestimmten Schlussfolgerungen gelangen über das, was vor sich geht. Seine Meinung sollte nicht beiseite geschoben werden. Das wäre barbarisch.
Halten Sie Ihre Warnungen vor möglichen unaufgeklärten Morden auch für die Zukunft aufrecht?
In gewissem Maße ja. Die Leute, die ihre Ziele mit solchen Methoden durchsetzen wollen, geben nie ganz auf. In diesem Punkt ändere ich meine Meinung nicht. Es gibt Menschen, innerhalb und außerhalb des Landes, die nicht möchten, dass sich die Türkei erholt und zu einem mächtigen Staat wird. Aber selbst sie sind nicht in der Lage, die Türkei zu zerstören.
Können Sie sich in Bezug auf dieses ,innerhalb' vielleicht ein wenig detaillierter äußern?
Ich denke, es ist besser, nicht deutlicher zu werden, sondern es bei einer allgemeinen Aussage zu belassen. Es gab in der Türkei immer Menschen, die geheime Machenschaften verfolgt haben. Um die Türkei herum haben sich einige staatenähnliche Gebilde herausgeformt. Auch einige Leute aus dem ,inneren Kreis' haben dazu beigetragen, dass diese ein Fundament erhielten. In allen Gesellschaftsschichten gibt es Leute, die sich nicht mit der Existenz der Türkei abfinden und sie so nicht hinnehmen wollen. Einer weiteren Erklärung bedarf es gar nicht. Allein schon durch ein Wort wie Geheimorganisation fühlen sie sich belästigt. Wenn man all dies sieht, kann man nur mit dem Kopf schütteln.
Warum fühlen sich einige Leute schon angegriffen, wenn man seine Sichtweise, hinter der bestimmte Sorgen stecken, zum Ausdruck bringt? Warum sollte sich jemand, der nicht gerade Mitglied einer Geheimorganisation ist, dadurch verletzt fühlen? Geheimorganisationen hat es schon immer gegeben. Dies berichten die staatlichen Stellen und der Sicherheitsdienst übereinstimmend, und die Gerichtshöfe haben die Identitäten dieser Organisationen ermittelt. Es gibt die unterschiedlichsten Arten von ihnen. Einige sind darauf aus, den Staatsschatz zu plündern, während andere blutige Auftragsmorde organisieren. Wir sehen ja, was aus scheinbar simplen Diebstählen, beispielsweise aus von Kindern begangenen Taschendiebstählen geworden ist. Sogar ein Bürgermeister wurde mit solchen Vergehen erpresst.
Wenn jemand dennoch behauptet, es gebe keine Geheimorganisationen oder Geheimbünde, dann hat er ein ganz anderes Problem.
Die Europäische Union stuft die Alewiten als Minderheit ein. Die Alewiten verlangen, dass ihre Cemevis (Gebetshäuser) eine gesetzliche Grundlage erhalten und dass sie im Amt für religiöse Angelegenheiten repräsentiert sind. Was denken Sie darüber?
Bis zum heutigen Tage hatten die Alewiten in der Türkei keine ernsthaften Probleme. In den ersten Jahren der Republik vielleicht schon, vielleicht wurden sie damals auch sogar schikaniert. Heute findet man Alewiten in allen Gesellschaftsschichten. Sie können werden, was sie wollen. Sie können politische Parteien gründen, in die Armee eintreten und Gouverneur werden. Sie sind ein fester Bestandteil des türkischen Volkes. Deshalb kann ich nicht nachvollziehen, dass einige von ihnen für einen Minderheitenstatus votieren. Der Staat hat Gesetze erlassen, die sicherstellen, dass sie die Schulbildung erhalten, die sie sich wünschen. Möglicherweise hoffen sie, ihre Lehren so auf die Tagesordnung zu bringen. Ich erinnere mich daran, vor einigen Jahren zu einem meiner alewitischen Brüder gesagt zu haben: „Diese Lehren lassen sich nicht allein durch mündliche Überlieferungen bewahren. Fasst sie doch in Büchern zusammen!" Ich glaube, das Amt für religiöse Angelegenheiten hat ein entsprechendes Projekt gestartet. Eine Sammlung der alewitischen Lehren ließe sich schon erstellen, wenn man 15-20 Bücher wie z.B. Ahmet Yesevis Hikemiyat and Haci Bektas Makalat bündeln würde. Wenn sich aus diesen Büchern ableiten lässt, dass Cemevis gebaut werden sollen, dann sollte ihnen dies als ein demokratisches Recht gewährt werden. Aber es existieren ja bereits Cemevis. Einige Institutionen wurden allerdings offenbar zu ideologischen Zwecken missbraucht. Die Tatsache, dass darunter auch einige Cemevis waren - auch wenn die alewitischen Bürger in einigen Fällen geteilter Meinung waren -, hat die Alewiten in eine schwierige Situation gebracht. Wir haben in der Vergangenheit bereits einmal empfohlen, ein Cemevi direkt neben einer Moschee zu errichten. Ich denke, dass die Cemevis eine rechtliche Basis erhalten sollten.
Einige alewitische Gruppen haben in dieser Hinsicht vor dem 17. Dezember Einfluss genommen.
Wenn sich einige alewitische Bürger in Europa über die Türkei beschweren, kann ich das genauso wenig gutheißen wie die Beschwerden der Kurden in früheren Zeiten. Auf dem Territorium der Türkei existiert ein türkisches Volk, das sich aus Türken, Kurden, Alewiten und Sunniten zusammensetzt. Wenn jene Mitbürger sich als Türken fühlen, gibt es nichts, was uns trennen würde.
Wie bewerten Sie die Forderungen der Alewiten an das Amt für religiöse Angelegenheiten?
Die Osmanen waren Hanafiten. Entsprechend entwickelte sich die islamische Rechtsprechung, vor allem im Detail. Aber diese Entwicklung fand nicht auf dem Rücken anderer statt. Nach der Ausrufung der Republik wurde das Amt für religiöse Angelegenheiten gegründet. Die Alewiten können sich an Schulen, die vom Staat oder diesem Amt eröffnet wurden, einschreiben. Sie können Imam an ihren Moscheen werden, wenn sie denn solche unterhalten. Sie können in ihren Cemevis ihre religiösen Zeremonien abhalten. Wenn die Alewiten argumentieren, sie seien eine eigenständige Sekte oder Religionsgemeinschaft, dann muss daran erinnert werden, dass in der Türkei auch Nusayris, Armenier, syrisch-orthodoxe Christen, Griechen, Juden, Protestanten, Baptisten, Baha'is und Wahhabiten leben. Sie alle könnten ebenfalls daher kommen und einen Sonderstatus für sich beanspruchen.
Wenn die Alewiten eine Ordensgemeinschaft sind - und Haci Bektas-i Velis System und Methode werden oft in die Nähe einer solchen Gemeinschaft gerückt -, dann könnten alle Ordensgemeinschaften einen solchen Status für sich beantragen. Aber in der Türkei sind Ordensgemeinschaften verboten. Vor einiger Zeit, noch vor dem 28. Februar, dachte man, die Demokratie sei nachsichtiger, als sie in Wirklichkeit ist. Einige Leute gingen damals auf die Straße, obwohl dies in der Sufitradition gar nicht vorgesehen ist. Sie sangen in aller Öffentlichkeit Gebete und sorgten für jede Menge Ärger. Diese Dinge haben der Religion sehr geschadet.
Sollten die Alewiten also nichts vom Staat verlangen?
Der Staat attackiert die Cemevis nicht. Die Alewiten feiern Cem- und Sema-Zeremonien, die sogar im Fernsehen übertragen werden. Auch heute noch gibt es in der Türkei Häuser, die überfallen werden, weil in ihnen Bücher gelesen werden und Gottes gedacht wird. Von über 2000 solcher Fälle wurde berichtet. Andererseits hat es in den letzen 40-50 Jahren keinen einzigen Fall gegeben, wo eine Cem- und Sema-Zeremonie überfallen worden wäre. Den Alewiten hat man mehr Toleranz entgegengebracht.
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