Eine Bewegung, die ihre eigenen Leitbilder hervorbringt
Die Organisation, für die Sie sich engagieren, wurde von manchen als eine Jamaat (Gemeinde, religiöse Gemeinschaft) und von anderen als eine Tariqat (religiöser Orden) bezeichnet. Sie jedoch nennen sie eine Bewegung, die ihre eigenen Leitbilder hervorbringt. Warum nicht Jamaat, sondern Bewegung?
Man muss die Dinge beim richtigen Namen nennen. Ich halte es für angebrachter, hier von einer Bewegung zu sprechen. Natürlich könnte man sie auch als Jamiyyat (Gesellschaft, Gemeinschaft), Jamaat, oder als zivile Nichtregierungsorganisation bezeichnen. Allerdings verweist der Begriff Gesellschaft auf Organisationen mit rechtlichen Statuten und Regularien. Der Begriff religiöse Gemeinschaft wiederum verweist auf eine Gruppe von Menschen, die sich um die Idee einer bestimmten Person scharen. Auch sie unterliegt bestimmten eigenen Regeln. Die Bezeichnung Jamaat betrachte ich aber grundsätzlich nicht als falsch. Ähnlich wie eine religiöse Gemeinschaft, die sich zur Pilgerfahrt zusammenschließt oder in einer Moschee zusammenkommt, können sich Menschen durchaus auch um eine Idee oder eine Grundvorstellung scharen, vorausgesetzt, diese liegt in den Grenzen des Islam.
Einige Leute haben den Begriff Nichtregierungsorganisation verwendet. Diese Definition fand auch bei Forschern außerhalb der Türkei Anklang. Ich halte sie allerdings nicht für besonders treffend. Wenn man sich anschaut, was diese Bewegung wirklich darstellt, sieht man, dass einige ihrer Ideen, die bereits vor längerer Zeit aufgebracht wurden, inzwischen unter Türken aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten breite Anerkennung gefunden haben. Diese Ideen sind heute in gesellschaftlichen Kreisen anzutreffen, die weder für mich selbst noch für irgendeinen anderen irgendwie überschaubar sind. Die Menschen haben sich um diese Ideen versammelt, weil sie sie offenbar für notwendig und nützlich hielten. Dabei haben sie den erforderlichen Geist des Handelns entwickelt.
Welche Ideen genau meinen Sie?Die Bildungsaktivitäten z.B. werden von vielen Menschen organisiert, die glauben, dass die Bildung für die Zukunft unserer Welt wichtig ist. Zu diesem Zweck unterstützen sie einander, auch wenn sie sich gar nicht persönlich kennen. Daher könnte man dieses Phänomen auch als eine umfassende kulturelle Aktivität bezeichnen. Aber, wie gesagt, ich finde ,Bewegung' treffender; vielleicht habe ich mich da von Nurettin Topcu und seinem Gelehrtenwissen beeinflussen lassen - eine Bewegung, die sich der Aufgabe widmet, unsere Gefühle und Gedanken und die türkische Philosophie zuerst in der Türkei und dann überall auf der Welt bekannt zu machen.
Warum verwenden Sie in Ihrer Definition die Worte „die ihre eigenen Leitbilder hervorbringt?
Als es früher darum ging, Vorbilder zu finden, die die Menschen ermutigen und ihre Aufmerksamkeit fesseln könnten, wurden wir im Zeitalter der Glückseligkeit [in der Zeit des Propheten] oder in unserer eigenen Geschichte fündig. Diese Vorbilder sind mir stets in Erinnerung, und mir kommen vor Freude die Tränen, wenn ich an sie denke. Aber etwas, das eine große Wirkung erzielen möchte, muss seine eigenen Leitbilder hervorbringen. Die Gefährten des Propheten, die Gründer des Osmanischen Reichs und auch die Helden unseres Unabhängigkeitskrieges - sie alle haben ihre eigenen Leitbilder hervorgebracht. Insofern spielt diese Definition für mich eine sehr wichtige Rolle.
Wenn eine Bewegung erst einmal beginnt, ihre eigenen Leitbilder hervorzubringen, und die Menschen beginnen, diese Bewegung zu bewundern, sich ihr anzuschließen, sich ihre Ideale anzueignen und diese als Mafkura [erhabene Ideale] zu akzeptieren und ihre Ziele für sich selbst zu übernehmen, dann ist sich, den Worten Ziya Gokalps zufolge, der Mensch, der an der Spitze dieser Bewegung zu stehen scheint, dessen, was in der Bewegung vor sich geht, gar nicht mehr bewusst. So tun viele Menschen hier und dort ähnliche Dinge, auch wenn sie einander gar nicht kennen, auch wenn sie keine organische Verbindung zueinander haben und einander auch nicht vorgestellt wurden. Was sie jedoch verbindet, sind ein bedeutender Gedanke und ein erhabenes Ideal.
Heißt das, dass diese beiden Dinge zu Leitbildern geworden sind?
Ich denke schon. Auch andere können sich ihrer bedienen, wenn sie möchten. In der Türkei gibt es allerdings eine sehr merkwürdige Beurteilungsweise, die ich absolut nicht nachvollziehen kann: Egal wie schön, vollkommen und vernünftig eine bestimmte Sache ist und ungeachtet dessen, wie viel Stabilität sie verspricht - immer wird demjenigen, der diese Sache realisiert, mehr Beachtung geschenkt als der Sache selbst. Wenn derjenige, den man mit dieser Sache verbindet, jemand ist, den man bewundert, dann ist dies umso besser. Im umgekehrten Fall jedoch wird die Sache selbst dann missbilligt, wenn es an ihr überhaupt nichts auszusetzen gibt.
Wie wird die Bewegung außerhalb der Türkei wahrgenommen?
Außerhalb der Türkei habe ich diese Erfahrung nie gemacht. In den Ländern, in denen diese Bewegung erfolgreich ist, hat es nie Probleme gegeben, obwohl doch viele dieser Länder über sehr empfindliche Geheimdienste verfügen, die schon den kleinsten Verdachtsmomenten nachgehen, und obwohl es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei viele Provokationen gab.
Sogar viele Länder, in denen die Menschen ihren Glauben auf sehr fromme Art und Weise leben, Länder, die keine eigenen Glaubensvorstellungen als ihre eigenen akzeptieren, haben die Förderer der Bildung willkommen geheißen. Dies beweist, dass diese Länder dazu in der Lage sind, zu einer objektiven Einschätzung zu gelangen, und dass sie die Leistung dieser Menschen nützlich finden. Dass die Bewegung in der Türkei ähnlich herzlich willkommen geheißen worden wäre, kann wohl niemand ernsthaft behaupten.
Die negative Einstellung ihr gegenüber leitet sich wahrscheinlich aus falschen Vermutungen ab. Sie entspringt offenbar bestimmten Antipathien einigen von uns gegenüber oder Fehlinterpretationen unseres Wirkens. Ich möchte an dieser Stelle aber gern etwas Subjektives einwerfen: Obwohl diese Bewegung von so vielen unterschiedlich denkenden Menschen aus so vielen Teilen der Welt für gut befunden wurde, gibt es in der Türkei immer noch Leute, die sie bekämpfen und sich ihr rücksichtslos in den Weg stellen. Deshalb habe ich mir wohl schon hundert Mal gesagt: „O mein Herr, wenn die Antipathien gegen diese Bewegung, die doch den Namen, die Sprache und die Kultur des türkischen Volkes in der Welt bekannt macht, in Wirklichkeit nur meiner Person gelten, dann nimm mein Leben, aber lasse nicht zu, dass diese Bewegung Schaden nimmt." Ich hatte nie irgendwelche anderen Ziele, als meinem Volk, meiner Religion und dem Weg, wie wir unseren Glauben leben, zu dienen.
Ich habe das Gefühl, dass ich dies sagen musste, denn wenn diese Bewegung von so vielen verschiedenen und so einander entgegengesetzten Meinungen im Rest der Welt als vernünftig und akzeptabel angesehen wird und man sie nur an einem einzigen Ort ablehnt, dann müssen wir entweder diejenigen hinterfragen, die uns ablehnen, oder uns selbst.
Jene andere zu hinterfragen, würde wahrscheinlich über eine reine Befragung weit hinausgehen und zu Su adh-Dhann [anderen Böses unterstellen] führen. Sich selbst zu hinterfragen, steht einem gläubigen Menschen besser zu Gesicht. Wenn wir auf Grund unserer eigenen Fehler falsch interpretiert und wahrgenommen werden, liegt die Schuld dafür bei uns. Wir sollten uns fragen: „Warum sind einige Menschen uns gegenüber misstrauisch?" Ich möchte niemandem die Schuld geben und stattdessen lieber sagen: „Vielleicht haben wir uns im Stil vergriffen."
Was meinen Sie damit?Auch wir haben Fehler gemacht. Zum Beispiel haben wir anscheinend den Eindruck erweckt, dass in dieser Bewegung die Religion eine Rolle spielt und sonst nichts. Einige Leute stören sich offenbar auch daran, dass wir ständig vom ,türkischen Volk' sprechen. All diese Vorbehalte kamen im ,Juni-Sturm' ans Tageslicht. [Gülen spielt auf den Vorwurf der Verschwörung an, der im Sommer 1999 in der Presse gegen ihn erhoben wurde.] Hochrangige Persönlichkeiten, die sonst stets gegensätzliche Standpunkte vertraten, erhoben damals unisono ihre Stimme: „Wie können Sie es wagen, Panturkismus oder Panislamismus auf die Welt auszudehnen?"
Diese Leute verunsicherten auch die Geheimdienste anderer Länder, indem sie sich einfach über bestimmte staatliche Institutionen hinwegsetzten und ihre Botschaften verbreiteten. Später haben wir uns dann Vorwürfe gemacht: „Vielleicht haben wir ihnen nicht genügend Informationen bereitgestellt. Es wäre wohl besser gewesen, wenn wir näher mit ihnen zusammengearbeitet und ihnen unsere Ideen erläutert hätten."
Aber die Hände, die wir einigen von ihnen [zur Versöhnung] entgegenstreckten, wurden nicht ergriffen. Man gab uns noch nicht einmal Termine. Manche warnten uns davor zu ihnen kommen, obwohl sie uns zunächst ein Treffen versprochen hatten. Es fällt mir schwer, sie zu verstehen, aber wahrscheinlich liegt so ein Verhalten in der Natur des Menschen. Egal ob man ein gläubiger Mensch ist oder nicht, egal ob man die Religion akzeptiert oder nicht, jeder kann Opfer einer solchen Kampagne werden.
Gegenwärtig erleben wir unsere Epoche der Aufklärung, die wie im Westen Brutalität, Feindseligkeit und Intoleranz mit sich bringt. Damals fielen Menschen der Guillotine zum Opfer oder wurden verbrannt. Diese Auswüchse wurden aber beseitigt, indem man sich auf die Felder Handeln und Aufklärung besann. Ich glaube, dass auch in der Türkei die Wahrheit eines Tages ans Licht kommen wird; und ich behaupte sogar, dass dieser Prozess bereits begonnen hat.
Heute genießt diese Bewegung die Wertschätzung der Mehrheit der türkischen Elite. Vereinzelt hört man aber auch noch die Bemerkung: „Sie ist in Ordnung, aber ich wünschte, dass diese und jene Leute nicht hinter ihr ständen."
Das Handeln wird bewundert, aber diejenigen, die handeln nicht. Habe ich Sie da richtig verstanden?
Eine Idee mag von bestimmten Personen aufgeworfen und vorgebracht werden; entscheidend jedoch ist ihre Akzeptanz bei den Menschen. Ist sie dann erst einmal akzeptiert, wird keiner mehr dem Beachtung schenken, der hinter ihr steht. Im Unabhängigkeitskrieg hat unser Volk die Idee, den Feind aus unserem Mutterland zu vertreiben, verinnerlicht. Aber die Leute in Istanbul wussten damals überhaupt nichts über die Städte Antep, Urfa, Maras, Bandirma und Balikesir, obwohl diese doch gar nicht so weit entfernt lagen. Die Bewohner dieser Städte versuchten, bestimmte Dinge zu tun, um ihr Ziel zu erreichen; später dann wollte sich Istanbul ihren Aktivitäten anschließen. Viele Gelehrte gehen heute davon aus, dass die Verwaltung in Ankara diese Bewegung, die an der Basis entstanden war und dann immer weitere Kreise gezogen hatte, in geordnete Bahnen gelenkt hat. Auf ganz ähnliche Art und Weise hat die Gesellschaft die Bewegung, über die wir hier sprechen, akzeptiert und von ihr Besitz ergriffen.
Das Wichtigste, was diese Idee betrifft, ist ihre Akzeptanz durch das Volk. Diese hätte sie aber nicht gefunden, wenn sie nicht als nützlich und vertrauenswürdig anerkannt worden wäre. Die ganze Bewegung mitsamt ihren Freiwilligen wäre dann erst gar nicht entstanden, und falls doch, hätte sie zumindest keine eigenen Leitbilder hervorgebracht. Und Bewegungen ohne eigene Leitbilder sind nicht lange lebensfähig.
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