Das Thema Wiederbelebung des Kalifats

Wie denken Sie über eine Wiederbelebung des Kalifats?

Als das Kalifat im Jahre 1924 abgeschafft wurde, sprach sich Ismet Inönü dagegen aus, Senator Seyit Bey aus Izmir, ein Lehrer des islamischen Rechts, jedoch nicht.

Letzterer erstellte sogar eine Broschüre, in der er, basierend auf dem Koranvers Wir haben dich zu einem Nachfolger auf Erden gemacht (38:26), die Geschichte des Kalifats analysierte. Dort betonte er, ,Kalif' sei ein Titel, den die Muslime dem Oberhaupt des Staates zu verleihen pflegten. Er erläuterte, dass jeder der vier Rechtgeleiteten Kalifen [der ersten vier Kalifen] auf andere Art und Weise gewählt wurde, um dann zu dem Schluss zu gelangen, es gebe kein bestimmtes Wahl-System, das für verbindlich erklärt worden wäre. Er bezeichnete die ersten vier Kalifen als die wahren Kalifen, weil sie ihre Pflicht in den Grenzen von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit erfüllten.

 

Heißt das, dass er das Kalifat praktisch für schon nach den ersten vier Kalifen für beendet erklärte?

Er nannte diese vier Kalifen die Repräsentanten des wahren Kalifats. Indirekt sagte er damit, das Erbe ihres Kalifats sei ein ,relatives Kalifat'. Der Prophet hatte ja auch prophezeit: Das Kalifat wird 30 Jahre nach meinem Tod Bestand haben. Diese Zeitspanne endete mit dem Kalifat Hasans, das nur sechs Monate währte. In einem weiteren, schwachen Hadith heißt es: Wenn ihr einen geraden Weg verfolgt, wird das Kalifat 70 Jahre überdauern , und weiter: Königtum und Monarchie werden folgen , und: Tyrannen werden über die Menschen herrschen.

Seyit Bey sagte also mit anderen Worten: Wenn es keinen Kalifen gibt, der von einer Mehrheit oder von den Ashab al-Ray [hoch angesehen Menschen] gewählt wird, einen Kalifen, der das Ideal des Kalifats hochhält und seine Pflicht als wahrer Kalif erfüllt, dann ist es einerlei, ob es ein Kalifat gibt, oder nicht. Das Kalifat wurde damals also zwar abgeschafft, man ging jedoch davon aus, dass es in der Form des Parlaments weiter existierte. Niemand kann dies bestreiten.

Ihrer Meinung nach handelt es sich hier also eher um eine politische als um eine religiöse Frage?

Wenn es um ein religiöses Thema geht, sollten wir uns zunächst die relevanten Koranverse und Hadithe anschauen und dann untersuchen, welchen Stellenwert sie innerhalb der Botschaft des Propheten haben und welche Bedeutung dem Thema zugemessen wird. Findet sich zum Beispiel irgendetwas in den Quellen, das besagt, dass ein Staat, der nicht durch den Titel Kalifat repräsentiert wird, kein rechtmäßiger Staat ist? Wie viel Raum wurde dem Thema Kalifat gewidmet, d.h., wird es als unverzichtbar eingestuft?

Ich habe hier nur versucht, eine Zusammenfassung der Perspektive Seyit Beys zu geben. Seine Gedanken sind nach wie vor unwidersprochen.

Wenn das Wort Kalifat fällt, denkt man zu allererst an islamische Bewegungen. Einige von ihnen stellen sogar die Ereignisse vom 31. März in ein anderes Licht. [Anmerkung des Übersetzers: Die angesprochenen Ereignisse begannen mit einer Rebellion in der Armee und führten 1909 zur Absetzung Abdulhamid II.]

Was zählt, ist die Praxis des Islam, die genau befolgt werden sollte. Es wäre falsch, historische Themen von zweitrangiger Bedeutung in den Vordergrund zu stellen, um zu polemisieren. Über diese zweitrangigen Themen lässt sich nämlich diskutieren [im Gegensatz zu den fundamentalen Prinzipien, die festgeschrieben sind]. Wenn einige andere Muslime auf diese Thema so viel Wert legen, dann frage ich mich, was sie dazu treibt. Darf man denn wirklich behaupten, dass es unter den Umayyaden und Abbasiden ein Kalifat im wahren Wortsinn gab? Haben Yezid oder Walid das Kalifat in so angemessener Art und Weise repräsentiert, dass wir heute dafür eintreten müssten? Ob es bewusst geschieht oder nicht, solche Debatten werden möglicherweise von Leuten angestoßen, die den Islam zwar nicht praktizieren, mit ihm aber ihre eigenen Schwächen zu überdecken versuchen.

Wie Sie wissen, steht dieses Thema auch mit dem Projekt des ,Größeren Mittleren Ostens' in Zusammenhang.

Ich glaube, dass einige Supermächte dabei sind, den Boden für eine Auseinandersetzung zu bereiten, indem sie eine Debatte über das Kalifat anstoßen. Wenn dieses Thema z.B. in der Türkei, in Pakistan, Indonesien oder in irgend einem anderen Land aufgebracht wird, dann werden sich die anderen Länder dem mit Sicherheit widersetzen. Denn überall existieren Nationalstaaten, die ihre Unabhängigkeit erklärt haben. Andere Gruppen mögen andere Ziele im Sinn haben. Wenn es in der Türkei Menschen gibt, die ein Kalifat für unverzichtbar halten, empfehle ich ihnen, ihren Standpunkt noch einmal zu überdenken. Ich möchte niemandem vorwerfen, jemandes Agent zu sein. Aber überall dort, wo irgendwelche ausländischen Ansprüche bestehen, werde ich misstrauisch. Ich denke, mit diesem Thema sollte man sehr behutsam umgehen. Hier verfolgen, verzeihen Sie mir, viele krumme Touren. Wenn diejenigen, die dies als das wichtigste Thema überhaupt darzustellen versuchen, ausländische Mächte und ihre Helfershelfer sind, dann sollten wir uns lieber vor ihnen in Acht nehmen.

Wenn man sich die Einrichtungen dieser Bewegung anschaut, erkennt man, dass wohl eine große ökonomische Macht hinter ihnen steht. Manche behaupten, dass diese Situation keine Probleme bereite, solange Sie leben, dass aber nach Ihrem Tod ein großer ,Kampf ums Erbe' einsetzen werde. Welche Art von Strukturen bestehen da? Was kommt nach Ihnen?

Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass jeder sein eigenes Szenario entwirft. Viele Vorstellungen basieren auf Missverständnissen. Wenn der Startpunkt aber schon ein Trugbild ist, müssen die Ideen, die folgen, zwangsläufig falsch sein. Die Behauptungen über die Aufteilung der finanziellen Rücklagen und über die Wahl eines neuen Führers nach meinem Tod sind nichts als unbegründete Mutmaßungen, die Hirngespinsten entstammen und nur deshalb vorgebracht werden, um andere Menschen zu verunsichern. Bei jeder Gelegenheit sage ich, dass diese Dienste nicht einem einzelnen Menschen gehören, sondern dem Volk als Ganzem. Das Gleiche gilt für die Einrichtungen.

Es existieren weder eine formale Organisation, die aufgeteilt werden könnte, noch irgendwelche Geschäftszweige oder eine Führerschaft, um die man sich streiten könnte. Die Menschen haben einige von uns respektiert, haben unseren Worten Wert beigemessen, und haben gleichzeitig mit ihrem Wirken ihrem Volk gedient, was sie auch weiterhin tun.

Selbst derjenige, der ihnen sagte, was sie tun könnten, betrachtete seine Worte nicht als Empfehlungen. Aber die Menschen nahmen seine Vorschläge, die ihnen gefielen, auf und setzten sie in die Tat um. Alles, was da ist, sind Menschen an verschiedenen Orten, deren Gefühle und Gedanken übereinstimmen und die ähnliche Aktivitäten unternehmen. Das ist eine ganz normale Sache: Zwischen ihnen herrscht eine Einheit des Glaubens, der Sprache und der Kultur.

Folgendes darf auch nicht vergessen werden: Wenn die Ideale, um die sich Menschen scharen, einen authentischen Wert besitzen, der unveränderlich ist, dann werden diese Werte auch morgen noch genauso attraktiv sein wie heute. Unsere religiösen und nationalen Werte stammen nicht von Individuen. Ihre Existenz beruht nicht auf der Existenz bestimmter Menschen. Sie allein werden die Menschen auch in der Zukunft zusammenhalten, ohne dass es zu Auflösungserscheinungen kommen wird. So lange diese Dienste in dem Geist, das Wohlgefallen Gottes zu finden, erbracht werden, wird Dieser keine Spaltungen und keine Zerwürfnisse zulassen. Wir vertrauen auf Gott, und bei Ihm suchen wir Zuflucht.

Ihr Schwerpunkt liegt auf den Menschen Anatoliens...

Die Türkei wurden von ökonomischen Krisen großen Ausmaßes erschüttert, und niemand kann behaupten, dass solche Krisen nie wiederkehren werden. Im Kontext der Realität heute hat es zwar den Anschein, als ginge es der Wirtschaft besser und als liefen die Dinge in ruhigeren Bahnen; aber ein gleichmäßiger Kurs ist auf Dauer nur durch das Vertrauen der Menschen ineinander zu erreichen; das ist eine psychologische Frage. Dieses Vertrauen lässt die Menschen sich dann neu darauf besinnen, dass sie aus freien Stücken handeln und ihre Geschäfte zu führen in der Lage sind.

Wir haben bereits diverse Krisen gemeistert, indem wir uns von der Psychologie der Krise befreit haben. So sehr wir für Anregungen dankbar sind, hoffen wir natürlich auch, dass sich die Wirtschaft gut entwickelt. Aber trotz aller eigenen Probleme und Krisen stärken die Menschen dieses Landes der ganzen Welt den Rücken.

Meine Augen füllen sich mit Tränen, wenn ich an all die Arbeitslosen denke, die um ihr tägliches Brot kämpfen müssen. Es gibt sehr viele innere Schwierigkeiten, man bedenke aber auch: Einige Mitglieder dieses Volkes beginnen Unternehmen in unterschiedlichen Weltregionen zu gründen. Sie bauen Bildungsinstitutionen auf, als wollten sie die ganze Welt in Licht tauchen. Während manche anderen sogar im Namen eines Dialogs versuchen, den Menschen Probleme zu bereiten und sie in Konflikte zu verwickeln, gehen unsere Menschen hin und bemühen sich um Versöhnung zwischen den Menschen. Im Namen der Freundschaft bringen sie der Welt auf praktische Art und Weise einen neuen Weg nahe.

Geht Ihre Beziehung zu Said Nursi genauso weit wie die zu anderen Persönlichkeiten, von denen Sie profitiert haben?

Zübeyir Gündüzalp [ein Schüler Nursis] sagte einmal, dass das Gefühl von Respekt und Dankbarkeit gegenüber einem Menschen direkt proportional dazu ist, wie viel man von ihm profitiert hat.

Dank der Gefühle und Vorstellungen, die mir meine Eltern vermittelt haben, war ich dem Propheten immer hingebungsvoll verbunden. Aber als ich in den Werken Said Nursis erkannte, was der Prophet wirklich alles für die Menschheit geleistet hat, beispielsweise in den Werken Die Wunder des Propheten Muhammad oder in Die Tropfen , da habe ich mir als Kind gesagt: „Es scheint fast so, als hätte ich bislang immer nur von Weitem geschaut. Die Sterne, die mich zuvor nur aus der Ferne anfunkelten, stehen nun so klar an meinem Horizont, dass ich fast das Gefühl habe, sie erreichen zu können, wenn ich nur meine Hand nach ihnen ausstrecke.

Nachdem ich Nursi gelesen hatte, wurden mir meine eigenen Vorstellungen und Gedanken wesentlich plausibler. Er war es, der mich von der Existenz Gottes überzeugte, was mir nun genauso klar ist wie die Tatsache, dass zwei plus zwei vier ergibt. Gott hat durch Nursis Rechtleitung das Licht des Glaubens in meinem Herzen entzündet. Dafür muss ich ihm einfach dankbar sein. Wenn ein Mensch von einem anderen Menschen, dessen Werke er liest, profitiert, sollte er in der Lage sein, dies auch offen zu bekennen. Dazu sind wir als Menschen einfach verpflichtet.

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