Wie hältst du’s mit der Apostasie?
Fast alle Religionen tun sich schwer mit Seitenwechslern. Im Islam gilt der Grundsatz „Kein Zwang in der Religion”. Dennoch gibt es Debatten über die Apostasie, wie zuletzt im Fall eines missverständlichen Zitates von Fethullah Gülen.
Hizmet ist ein gesellschaftliches Netzwerk, das seinen Ursprung in der Türkei hat. Mit dem Zuzug vieler Menschen türkischer Abstammung kamen auch die Ideen Hizmets nach Deutschland, und so hat sich diese Bewegung mit ihrem vielfältigen Engagement auch in Deutschland etablieren können.
Viele der Menschen, die sich in Hizmet engagieren, sind inspiriert von den Ideen des türkisch-muslimischen Gelehrten Fethullah Gülen. Hizmet ist offen für alle Menschen, die sich für unsere Gesellschaft engagieren möchten. Die Ideen, auf denen Hizmet basiert, sind universelle Werte wie Toleranz, Chancengerechtigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, demokratische Grundrechte, Meinungsfreiheit und die Gleichstellung von Mann und Frau.
Das Hizmet-Netzwerk in Deutschland wurde in der jüngeren Vergangenheit mit einem schwerwiegenden Vorwurf konfrontiert. Dabei geht es um die Apostasie, also den Austritt aus der eigenen Religion, insbesondere das Verlassen des Islam. Auf der Basis einer aus dem inhaltlichen und historischen Kontext gerissenen Textpassage Gülens wurde behauptet, der Islam verlange angeblich die Todesstrafe für all jene, die die islamische Glaubensgemeinschaft verlassen wollen. In diesem Artikel möchte ich auf diesen Vorwurf eingehen.
Menschen, die sich in Hizmet engagieren, bekennen sich unmissverständlich zum deutschen Grundgesetz, zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie Meinungsfreiheit. Dies schließt die Religionsfreiheit mit ein, die eben auch bedeutet, dass man keiner Religion angehören kann, dass man frei ist bei der Wahl seiner Religion und auch bei dem Austritt aus dieser. Die in Hizmet engagierten Menschen gehen sogar einen Schritt weiter: Im Rahmen von Hizmet setzen sie sich für einen friedlichen und von Akzeptanz und Toleranz geprägten Dialog zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Kulturen und Religionen ein.
Gülen: Islam und Demokratie sind vereinbar
Das Thema der sogenannten „Apostasie“ ist eine Herausforderung für jede Religion. Die Diskussion darüber ist allerdings vor allem theologischer Natur und sollte in einer Exegese von Theologen geführt werden. Ich bin kein solcher Experte und dennoch möchte ich aus Überzeugung einige Gedanken aufschreiben und einen Beitrag dazu leisten, um Missverständnisse auszuräumen.
Der Islam besitzt eine tolerante Grundhaltung, die es jedem erlaubt, seine Überzeugungen auszudrücken und ungehindert auszuleben. Viele Kritiker bezweifeln, dass „der“ Islam mit der Moderne vereinbar sei. Ich bin jedoch der Ansicht, dass der Islam durchaus mit einer modernen Lebensweise und einer modernen Gesellschaft kompatibel ist. Auch dies ist aus den Ideen und Lehren des türkisch-muslimischen Gelehrten und Vordenkers Fethullah Gülen abzuleiten. Er möchte einen Beitrag zum Frieden leisten, indem er sich für einen offenen Dialog zwischen den Menschen, egal welchen Glaubens, einsetzt. Er ist der Ansicht, dass Meinungs- und Religionsfreiheit die Basis für Frieden sind und dass der Islam mit der Demokratie voll und ganz vereinbar ist.
Es gibt keinen Zwang im Glauben
In folgender Passage setzt sich Gülen mit dem Vers „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (2:256) auseinander. Direkt zu Beginn des Texts setzt er ein Signal der Toleranz und Offenheit:
„Der Zwang widerspricht dem Sinn und Zweck der Religion, die im Wesentlichen ein Aufruf an die Lebewesen mit freiem Willen ist, die Existenz ihres Schöpfers zu bejahen und ihn zu verehren. […] Die Nichtmuslime, die in muslimischen Gesellschaften leben, haben immer ein Recht auf absolute Glaubens- und Religionsfreiheit. […] In gewissem Sinne ist die religiöse Toleranz eine soziopolitische Eigenschaft, die charakteristisch für den Islam ist und die sich direkt aus dem Verständnis, das die Muslime vom Koran haben, und aus ihrer Verpflichtung gegenüber seinem Grundsatz keines Zwangs in der Religion ableitet. […]“
Fethullah Gülen hat aus einer tiefen Überzeugung heraus ein Frömmigkeitsverständnis entwickelt, das gerade nicht eine Tugend daraus macht, gegen etwas oder jemand anderen zu sein, sondern sich für etwas einzusetzen und das am besten gemeinsam. Erst kürzlich hat Fethullah Gülen dies in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (06.12.12) noch einmal erläutert:
„Die Glaubensfreiheit ist in der muslimischen Religion ein Prinzip. […] Das islamische Prinzip ist, die Freiheit der Glaubensausübung – der Muslime wie der Nichtmuslime – unter Schutz zu stellen. Die unterschiedlichen Umsetzungen in der Geschichte müssen jedoch in ihrem eigenen historischen Kontext gesehen werden.“
Auch der Übersetzung einer Predigt Fethullah Gülens aus dem Jahre 2004 ist ein Bekenntnis zur Glaubensfreiheit zu entnehmen:
„Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen ihre normalen religiösen Zeremonien ausüben, und wenn manche, die von diesen Handlungen positiv beeindruckt sind, zu ihnen übertreten. Niemand hat das Recht, sich in die persönliche Überzeugung einzumischen.“
Religionsfreiheit umfasst die Freiheit des Austritts
Eine von der Stiftung „Alliance for Shared Values“ - einem Think Tank, das über die Positionen Hizmets forscht und publiziert - jüngst veröffentlichte Erklärung über die Stellung der Hizmet-Bewegung zur Meinungs- und Religionsfreiheit enthält folgende Erklärung zur Religionsfreiheit:
„Jeder hat das Recht auf Freiheit von Religion und Meinung. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, um einzeln oder gemeinsam Gebete zu verrichten und seine Überzeugungen durch Unterrichten oder Praktizieren auszudrücken.
Vertreter und Anhänger der religiösen Minderheiten oder der religiösen Mehrheit sollten die Freiheit haben, friedlich fordern zu können, ihren religiösen Bedürfnissen nachkommen zu dürfen. Diese Forderungen sollten im Rahmen der demokratischen Prinzipien und universellen Menschenrechte und Freiheiten zur Sprache gebracht und aufgestellt werden.“
Diese Erklärung wurde von Soziologen und Theologen ausgearbeitet, die der Hizmet-Bewegung nahe stehen und auf Basis einer Auswertung der Predigten und Aussagen Gülens formuliert worden waren. Aus dieser Erklärung wird klar, welcher Umfang der Religions- und Meinungsfreiheit in den Ideen Fethullah Gülens und somit auch in der Hizmet-Bewegung zukommt.
Die Bedeutung religiöser Texte wird in pluralistischen Gesellschaften immer diskutiert und unterschiedlich interpretiert werden. Diese Gedanken und Hinweise in diesem Beitrag sollen zur gegenseitigen Verständigung beitragen. Sie sollen zudem Vorurteilen und Missverständnissen entgegentreten und die Hand reichen für einen gemeinsamen Dialog.
Nur im Dialog, der vor allem auch bedeutet, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, gelingen die Verständigung und ein friedliches Miteinander. Dieses Ziel haben wir uns im Übrigen auch im Zusammenhang mit der Gründung der Stiftung Dialog und Bildung gesetzt, mit der wir als Ansprechpartner für Fragen rund um Fethullah Gülen und Hizmet zur Verfügung stehen wollen.
Ercan Karakoyun koordiniert die Arbeitsgruppe Hizmet in Deutschland und ist Vorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung in Gründung. Die Stiftung informiert über die Ursprünge, die Entwicklung und die Aktivitäten von Hizmet in Deutschland sowie über die Ideen und die Arbeit Fethullah Gülens. Sie dient als Ansprechpartner für Medien, Politik und Gesellschaft.
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