Fethullah Gülen über die Gefährdung der Demokratie in der Türkei
SAYLORSBURG, Pa. -- Es ist zutiefst enttäuschend zu sehen, was aus der Türkei in den vergangenen Jahren geworden ist. Noch vor kurzer Zeit war sie das Vorbild der Länder mit muslimischer Mehrheit: als potenzieller Kandidat der Europäischen Union war sie auf dem Weg eine funktionierende Demokratie zu werden, die die universellen Menschenrechte, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Rechtsstaatlichkeit und die Rechte der KurdInnen und nichtmuslimischen BürgerInnen aufrechterhält. Diese historische Chance scheint nun vertan zu sein, da die momentan regierende Partei der Türkei, die AKP, diesen Fortschritt rückgängig macht und gegen die Zivilbevölkerung, die Pressefreiheit, das Gerichtswesen und das freie Unternehmertum scharf vorgeht.
Die momentanen politischen Führer der Türkei scheinen durch den Wahlsieg ein absolutes Mandat zu ergreifen. Jedoch erteilt ihnen der Sieg keine Genehmigung, die Verfassung zu ignorieren oder die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, insbesondere wenn die Wahlsiege auf Kumpel-Kapitalismus und der Unterwerfung der Medien errichtet wurden. Die AKP-Führer fassen jede demokratische Kritik als einen Angriff gegenüber dem Staat auf. Indem jede kritische Stimme als Feind, oder gar Verräter gesehen wird, führen sie das Land zu einem Totalitarismus.
Die letzten Opfer dieses Vorgehens sind die AngestelltInnen, LeiterInnen und RedakteurInnen, unabhängiger Medienorganisationen, die inhaftiert wurden und nun Geldstrafen ausgesetzt sind, die durch Änderungen der Gesetze und des Gerichtssystems, die vor Kurzem vorgenommen wurden, möglich gemacht wurden. Der Leiter eines der bekanntesten Fernsehsender, der im Dezember inhaftiert wurde, ist immer noch hinter Gittern. BeamtInnen, die in den Korruptionsvorwürfen ermittelten, wurden bloß weil sie ihrer Arbeit nachgingen, ebenfalls in Haft genommen. Eine unabhängige Justiz, eine intakte Zivilgesellschaft und Medien sind Abwehrmechanismen gegenüber der Regierung. Solche Belästigungen implizieren, dass wer auch immer im Weg der regierenden Partei steht, das Ziel von Verleumdung, Sanktionen und sogar erfundener Geldstrafen wird.
Die politischen Führer der Türkei haben nicht nur den Westen entfremdet, sondern verlieren ebenfalls ihre Glaubwürdigkeit im Nahen Osten. Die Fähigkeit der Türkei einen positiven Eindruck in der Region zu hinterlassen, hängt nicht nur von ihrer Wirtschaft, sondern auch von der Gesundheit ihrer Demokratie ab.
Die Kerngrundsätze einer funktionierenden Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, der Respekt der individuellen Freiheiten sind ebenfalls die wichtigsten Grundsätze der islamischen Werte, die uns von Gott verliehen wurden. Kein/e politische/r oder religiöse/r FührerIn hat die Befugnis dazu, diese wegzunehmen. Es ist entmutigend religiöse GelehrtInnen zu sehen, die theologische Rechtfertigungen für die Unterdrückung und Korruption seitens der regierenden Partei äußern oder einfach nur schweigen. Jene, die die Sprache und Symbolik der Religionen beachten, jedoch die Kerngrundsätze ihrer Religion verletzen, verdienen solch eine Loyalität religiöser GelehrtInnen nicht.
Sich gegen die Unterdrückung auszusprechen ist ein demokratisches Recht, eine Bürgerplicht – und für Gläubige, eine Verpflichtung. Der Koran stellt deutlich dar, dass Menschen gegenüber Ungerechtigkeit nicht schweigen sollen. „Oh, jene, die glauben! Seid Verteidiger und Träger der Gerechtigkeit, bezeugt dies für den Willen Gottes, selbst wenn es gegen euch selbst, eure Eltern oder Verwandtschaft ist.“
Seit den letzten 50 Jahren bin ich damit gesegnet in einer zivilgesellschaftlichen Bewegung teilzunehmen, die von manchen auch als Hizmet-Bewegung bezeichnet wird, deren Unterstützer und Freiwillige Millionen von türkischen BürgerInnen enthält. Diese BürgerInnen widmeten sich dem interreligiösen Dialog, der gemeinnützigen Arbeit, Hilfsorganisationen und ermöglichten Menschen den Zugang zur lebensverändernden Bildung. Sie gründeten mehr als 1.000 moderne, säkulare Schulen, Nachhilfeeinrichtungen, Universitäten, Krankenhäuser und Hilfsorganisationen in über 150 Ländern. Sie sind LehrerInnen, JournalistInnen, Geschäftsfrauen und -männer und durchschnittliche BürgerInnen.
Die immer wieder verwendete Rhetorik der regierenden Partei um die Hizmet-UnterstützerInnen niederzumachen ist nichts als eine Ausrede um ihre eigene autoritäre Einstellung zu rechtfertigen. Die Freiwilligen der Hizmet-Bewegung hatten weder die Absicht eine politische Partei zu gründen noch haben sie politische Ziele verfolgt. Ihre Beteiligung an der Bewegung ist vom Wesenhaften und nicht vom Äußerlichen motiviert.
Ich habe über 50 Jahre damit verbracht, die Werte des Friedens, des gegenseitigen Respekts und des Altruismus zu predigen. Ich habe Bildung, gemeinnützigen Dienst und interreligiösen Dialog unterstützt. Ich habe immer daran geglaubt, dass das Glück im Glück des Anderen liegt und während dem Dienste gegenüber Menschen stets das Wohlwollen Gottes erwägt. Welcher Einfluss mir auch immer zugeschrieben wurde, so habe ich versucht ihn bei der Förderung der Bildung einzusetzen und soziale Projekte zu starten, die das wertvolle Individuum fördern. Ich selber habe kein Interesse an politischer Macht jemals in Erwägung gezogen.
Viele aus der Hizmet-Bewegung, mich selbst eingeschlossen, haben das Programm der momentan regierenden Partei unterstützt, einschließlich der im Jahre 2005 eröffneten Beitrittsverhandlungen in die EU. Unsere Unterstützung basierte auf Prinzipien, so wie unsere heutige Kritik. Es ist unser Recht und unsere Pflicht, unsere Stimme zu erheben, wenn es um Regierungspolitik geht, die einen starken Einfluss auf die Gesellschaft hat. Leider hat uns unsere demokratische Äußerung gegen die öffentliche Korruption und den Autoritarismus zum Opfer einer Hexenjagd gemacht; seitdem sind die Hizmet-Bewegung und ich Hasspredigten, Diffamierungskampagnen und legaler Belästigung ausgesetzt.
Wie alle Schichten der türkischen Gesellschaft zeigten auch Hizmet-UnterstützerInnen eine Präsenz in Regierungsorganisationen sowie im privaten Sektor. Diesen BürgerInnen können weder ihre in der Verfassung verankerten Rechte genommen werden, noch dürfen sie wegen ihrer Sympathie gegenüber den Idealen der Hizmet-Bewegung diskriminiert werden, solange sie gemäß den Grundsätzen des Landes und den Gesetzen ihrer Institutionen und grundsätzlichen ethischen Prinzipien handeln. Das Anvisieren von jeglichen BürgerInnen und die Darstellung derer als eine Gefahr ist ein Zeichen von Intoleranz.
Wir sind nicht die einzigen Opfer der Razzia seitens der AKP. Friedvolle UmweltdemonstrantInnen, KurdInnen, AlewitInnen, Nicht-MuslimInnen und andere sunnitisch-muslimische Gruppen, die nicht im Einklang mit der AKP sind, haben ebenfalls gelitten. Ohne Abwehrrechte ist kein Individuum oder keine Gruppe vor dem Zorn der regierenden Partei in Sicherheit. Unabhängig von ihrer religiösen Ansicht können und sollten BürgerInnen sich anhand der universellen Menschenrechte und Freiheiten verbünden und sich auf demokratische Weise denjenigen widersetzen, die diese verletzen.
Die Türkei hat mittlerweile einen Punkt erreicht, an dem die Demokratie und die Menschenrechte nahezu eingestellt wurden. Ich hoffe und bete, dass diejenigen, die an der Macht sind, von ihrem momentan tyrannischen Weg abkommen. In der Vergangenheit hat die türkische Gesellschaft bereits gewählte politische Führer abgelehnt, die von der Demokratie abgekommen waren. Ich hoffe, dass sie ihre gesetzlichen und demokratischen Rechte erneut dazu verwenden, die Zukunft ihres Landes zurückzugewinnen.
Quelle: Gulen, Fethullah: Turkey’s Eroding Democracy, aus: New York Times, 03.02.2015, URL: http://www.nytimes.com/2015/02/04/opinion/fethullah-gulen-turkeys-eroding-democracy.html?_r=0, Originalsprache: Englisch, Stand 26.02.2015.
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