Die türkische Bewegung des Fethullah Gülen verbindet Islam und Modernität
In Amerika ist es kein Verstoß gegen den Säkularismus, wenn ein charismatischer Prediger wie Rick Warren die Präsidentschaftskandidaten in seine Gemeinde der Saddleback Church einlädt. In der Türkei würde bereits weit weniger als das Empörung hervorrufen.
Warren hat sich zum Ziel gesetzt, Gräben in der amerikanischen Gesellschaft zu überbrücken und dabei zu den Werten des Glaubens zu stehen. Bei Fethullah Gülen, dem charismatischen, einflussreichen Prediger aus der Türkei, ist das nicht anders. Seit neun Jahren lebt er in Amerika, denn zu Hause fürchtet sich das kemalistische Establishment vor ihm. Es unterstellt Gülen, einen islamischen Staat anzustreben, und hält ihn von seiner Republik fern.
Eine "geheime Agenda", die Türkei zu islamisieren, habe Gülen, behaupten die kemalistischen Hardliner. Die offene Agenda kommt zu einem anderen Ergebnis: Gülen war der erste bekannte Türke, der den Ökumenischen Patriarchen zu Konstantinopel, Bartholomaios, und den armenischen Patriarchen in der Türkei, Mesrob, in ihren Amtssitzen besucht hat; seither steht er mit beiden im Gespräch. Als Erster bringt Gülen Intellektuelle gegensätzlicher Ideologien Jahr für Jahr zu einem Gedankenaustausch zusammen; dort entstand ein fruchtbarer Dialog. Gülen hat Privatschulen gründen lassen, die unter der staatlichen Schulaufsicht stehen, aber mehr zur Vermittlung von Naturwissenschaften und Fremdsprachen leisten als die staatlichen Schulen.
Dennoch trauen die "säkularen" Kemalisten im Staatsapparat und ihre Freunde im Ausland dem Prediger und dessen Bewegung nicht. Gülen akzeptiert nicht, dass es einen Konflikt zwischen Moderne und Religion gibt, den die "säkularen" Hardliner konstruieren. Sie kommen zu der Prognose, dass Religion in der Moderne verkümmere. Gülen sieht hingegen gerade in der Moderne einen Bedarf an Religion und metaphysischen Werten. Das macht ihn in der Türkei zum Staatsfeind; die Berliner Publizistin Necla Kelek unterstellt ihm sogar eine "zutiefst reaktionäre Denkweise". Dabei benutzen das kemalistische Establishment und seine Freunde im Ausland das Argument, alles, was der Islam jenseits der Theologie hervorbringe, müsse politisch sein. Damit mache sich der Islam zu einem Gegenmodell für die politische und gesellschaftliche Ordnung des modernen Westens. Neben dem politischen Islam, wie er in weiten Teilen der arabischen Staaten besteht, gab es in der islamischen Welt jedoch stets gesellschaftliche Bewegungen, die den Menschen im Auge haben, nicht die politische Ordnung. In dieser Tradition stehen Gülen und seine Bewegung.
Der Islam hat viele Gesichter. Den mystischen und toleranten türkischen Islam symbolisiert der tanzende Derwisch, der im Drehen um die eigene Achse in Ekstase gerät und dabei die Vereinigung mit Gott sucht. Gülen ist der Mystik und Toleranz verpflichtet, wie sie Mevlana Celalettin Rumi, Yunus Emre und Said-i Nursi entwickelt und gepredigt haben. Auch setzt er die Tradition eines rationalen Islams fort, wie ihn Ghazzali (1058-1111) formuliert hatte. Häufig zitieren Gülens Anhänger sein Wort: "Schimpft nicht auf die Dunkelheit, sondern stellt Kerzen auf." Im Mittelpunkt von Gülens Denken steht statt der großen Politik die Verinnerlichung der Religion. Dazu predigt er Werte, die sich nicht grundsätzlich von denen des Christentums unterscheiden: Hingabe an Gott und die Menschen, Nächstenliebe und Opferbereitschaft. Sie setzt er den "destruktiven Werten Konflikt und Konfrontation" entgegen. Zusammen ergeben sie eine "weltliche Askese", die dem Menschen inneren Frieden vermitteln und ihm seine Verantwortung für seine Umwelt bewusst machen soll. "Ideen bewegen und motivieren den Menschen", sagt Gülen. Er selbst konzentriert sich dabei auf drei "Ideen": Bildung, Dialog und Medien. So haben seine Anhänger in vielen Teilen der Welt mehr als 500 Schulen gegründet; die "Abant Plattform" und die "Vereinigung der Journalisten und Schriftsteller" bringen Intellektuelle unterschiedlicher Überzeugungen zusammen; das auflagenstärkste Printmedium der Türkei ist die Gülen nahestehende Tageszeitung "Zaman", ergänzt wird sie um mehrere Fernsehsender und eine Reihe von Periodika. Die Bewegung ist schwer zu fassen. Denn gemeinsamer Nenner ist nicht die Zugehörigkeit zu einer Organisation, sondern das Bekenntnis zu einer Ethik. Die Gegner Gülens biegen die fehlende Institutionalisierung zum Vorwurf um, sie sei eine "klandestine Organisation" mit "umstürzlerischen Absichten". Entstanden ist ein loses Netz, das die Anhänger informell verbindet. Der Bochumer Islamwissenschaftler Bekim Agai hat es untersucht. Wer sich von Gülens Ideen inspirieren lässt, gründet aus eigener Initiative eine Schule oder ein Bildungszentrum. Die Bewegung selbst gibt sich daher den Namen "Gönüllüler Hareketi", "Bewegung der Freiwilligen und Ehrenamtlichen".
Gülens Anhänger tragen die Ideen ihres Predigers in die Welt, auch nach Deutschland. Selbst in der arabischen Welt entfaltet sie sich langsam. Unzutreffend ist die immer wieder verbreitete Behauptung, die Bewegungen Millî Görüs und von Fethullah Gülen seien deckungsgleich oder flössen ineinander über. Millî Görüs ist die von Necmettin Erbakan gegründete Dachorganisation des politischen Islams der Türkei. Sie hat ein klar erkennbares Organigramm, einen islamistischen Diskurs und ein auf die türkische Innenpolitik gerichtetes Interesse. Ihre Mitglieder sind überwiegend türkische Migranten aus der Arbeiterklasse. In allen Punkten unterscheidet sich die Gülen-Bewegung von ihr. Gülens Mitglieder rekrutieren sich überwiegend aus der neuen Mittelklasse, ob in der Türkei oder in Deutschland. Akademiker schließen sich ihr an, die sich mit den drei Hauptanliegen Gülens - Bildung, Dialog und Medien - identifizieren. Sie beschäftigen sich weniger mit der hohen Politik der Türkei als mit lokalen Projekten in Deutschland und sind dabei häufig ehrenamtlich tätig. Denn sie haben, das hört man von ihnen häufig, lediglich "die Hoffnung auf das Wohlgefallen Gottes", durch das man ins Paradies gelangen kann, aber keine Garantie. Sie müssen sich also vor Gott beweisen, dass sie neben dem Gebet mit konkreten Taten Gutes bewirken. Da schwingt ein Verhalten mit, für das sich in der Türkei der Begriff "islamischer Calvinismus" durchsetzt. Muslime, die sich dazu bekennen, sagen, Arbeit sei eine der höchsten Formen von Gottesdienst.
Anders als Millî Görüs versteht sich die Gülen-Bewegung als überparteilich, unterstützt im Prinzip in der Türkei aber jene Parteien, die die Demokratisierung voranbringen. Wiederholt hat sich Gülen in seinen Predigten für eine funktionierende Demokratie und eine pluralistische Gesellschaft als Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Menschen ausgesprochen. Quantitativ fassen lässt sich ein Netz aber nicht, das keine Mitgliedschaft kennt und stark dezentralisiert ist. Die Bewegung ist nicht institutionalisiert, und sie ist nicht politisch. Sie will nicht über politische Macht eine "bessere Gesellschaft" schaffen, sondern von unten in der Gesellschaft durch Bildung und Toleranz dem Menschen dienen.
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