Gülen: "Für die Bewegung gilt: Weder heute noch in der Zukunft sollten unsere Freunde irgendwelche Ambitionen in Richtung Regierungsverantwortung hegen!"

Haben Sie ein Testament verfasst?

Ja, bereits vor langer Zeit. In diesem Testament bitte ich darum, in meine Robe gehüllt und mit meinem Turban [in der traditionellen Gewandung eines muslimischen Gelehrten] bestattet zu werden. Das Geld in meiner Brieftasche sollte reichen, um für das Leichentuch und die Begräbniskosten aufzukommen.

Ich möchte nicht, dass die Begräbniskosten mit dem Geld für die Lizenzrechte [an den Büchern und Kassetten] beglichen werden. Ich weiß nicht, ob das korrekt wäre. Und ich möchte auch nicht, dass meine Rente dafür genommen wird; denn das hieße ja, dass der Staat dafür aufkäme. Deshalb habe ich ein wenig Geld zurückgelegt.

 

Die Bücher, die ich gelesen habe, habe ich von meinem Gehalt gekauft. Diese betrachte ich als vom Staat erworben. Einige Exemplare wurden mir auch von Verlagen ausgehändigt, denn ich bin ein Hodscha. Man hat dies meiner Position wegen getan. Die Geschenke, die man mir gemacht hat, habe ich aufbewahrt. Sie sollen später einmal dem Volk zur Verfügung stehen. Daneben habe ich verfügt, dass meine Bücher und persönlichen Habseligkeiten den Einrichtungen übereignet werden sollen, in denen man sie findet.

Einige Freunde von mir pflegten, stets selbst für ihren Tee oder ihr Essen aufzukommen. Sie bzw. ihre Familien (falls sie selbst nicht mehr am Leben sind) habe ich in meinem Testament bedacht. Ich hoffe, sie werden sich über das, was ich zurücklasse, freuen. Bevor ich hierher [in die USA] gekommen bin, hatte ich mich - aus Kostengründen - dafür entschieden, dass meine leibliche Hülle nicht zurück in die Türkei gebracht werden soll. Bei dieser Entscheidung tue ich mich jedoch schwer. Heute wünsche ich mir, in der Türkei neben meinem Vater oder meiner Mutter beigesetzt zu werden.

Was die Bewegung betrifft: Weder heute noch in der Zukunft sollten unsere Freunde irgendwelche Ambitionen in Richtung Regierungsverantwortung hegen - selbst dann nicht, wenn man ihnen allen Prunk und Pomp dieser Welt zu Füßen legen würde. Meine Freunde, die mich lieben und etwas auf meinen Rat geben, sollten nicht einen Moment lang zögern, all dies mit dem Rücken ihrer Hände beiseite zu wischen. Das habe ich auch in der Vergangenheit bereits oft unterstrichen. Selbst wenn andere das nicht verstehen mögen - sie sollten das Wohlgefallen Gottes suchen, und sich, aufrichtig und möglichst ohne Fehltritte, darum bemühen, den Namen Gottes zu preisen. Ich werde mein Testament nun noch einmal überarbeiten und einige Punkte klarstellen.

Sie halten sich inzwischen seit sechs Jahren in den USA auf. Wie nehmen die Amerikaner Sie eigentlich wahr?

Ich bin hier nicht sehr bekannt. Lediglich aus Höflichkeitsgründen habe ich mich mit einigen Menschen getroffen.

Warum treffen Sie sich nicht mit Menschen?

Als ich 1997 hierher kam, habe ich mich mit einigen Leuten getroffen, z.B. mit solchen, die für die Türkei als Diplomaten, Abgesandte, Akademiker und Geistliche tätig waren. Ich kam zur Behandlung hierher. Als dann in der Türkei die Stürme losbrachen [im Zuge der ,Kassettenverschwörung' gegen Gülen im Juni 1999], hielt ich es für sinnvoller, die Behandlung auch hier fortzusetzen. Es war mir klar, dass ich mit meinen gesundheitlichen Problemen (Herzproblemen, hohem Blutdruck und hohem Cholesterinspiegel) nicht in der Lage sein würde, das, was in der Türkei vor sich ging, zu ertragen. Ich hielt mich zwar in Amerika auf, hielt mich gleichzeitig aber abseits. Es gab damals Gerüchte wie die ,Grüngürtelverdächtigungen' [Anmerkung des Übersetzers: Verdächtigungen, die USA würden es darauf anlegen, im Nahen Osten ihnen wohl gesonnene Gruppierungen oder Regierungen an die Macht zu bringen], und man stellte eine Verbindung zwischen uns und den Projekten der USA her. Ich habe mich mit niemandem getroffen, weil ich solchen unberechtigten Verdächtigungen den Boden entziehen wollte. Aus dem gleichen Grunde habe ich auch Lehrangebote von Universitäten ausgeschlagen.

Mein Platz ist in meinem Land mit seiner Erde und seinen Steinen, in der Mitte meines Volkes. In jüngster Zeit haben Türken hier in den USA begonnen, einige Aktivitäten zu starten und sich zu Wort zu melden. Dadurch haben mich einige Menschen auch meine Bücher kennen gelernt - Menschen, die sich um unserer Freunde willen zum Islam bekannten und sprachen: „Muhammad ist der Gesandte Gottes . Einige von ihnen, Intellektuelle und Akademiker, die etwas über die Bewegung erfahren wollten, habe ich auch empfangen.

Wie haben die Jahre in den USA Sie beeinflusst?

In der Terminologie der islamischen Rechtsprechung ausgedrückt, ist mein Aufenthalt hier die bessere Wahl unter zwei Übeln. Ich hatte ja gar nicht vor, hierher zu kommen, aber Dr. Sait bestand darauf und erklärte mir, meine Gesundheit dulde keinerlei Nachlässigkeiten. Selbst wenn es noch so hart für mich war: Ich musste mich entscheiden, entweder fortzugehen aus meinem Land und von meinem Volk oder - wie es einer unserer Politiker formulierte - Tag für Tag mit einer neuen Verschwörung konfrontiert zu werden, bei der aus Maulwurfshügeln Berge gemacht werden. Ich fragte meine Freude um Rat und entschied mich schließlich für das Heimweh, um nicht Zeuge all des Bösen zu werden, das sich ankündigte, und um nicht von meinem eigenen Volk beleidigt zu werden. Obwohl ich schon im Vorfeld von der Verschwörung erfahren hatte, habe ich mir einige Dinge im Fernsehen angeschaut. Was die Unterstützer der Verschwörer schrieben, habe ich hingegen nicht gelesen, um nicht zu viel Groll gegen sie hegen zu müssen.

Wie haben Sie davon erfahren?

Ein Freund von mir aus der Wirtschaft war gerade zu Besuch, als sein Telefon schellte. Jemand ließ ihn wissen: „Es existiert ein Sack voller Kassetten. Wir haben vor, einige von ihnen zusammenzuschneiden. Die Leute hier haben mir gedroht: ,Lass es ihn nicht wissen, sonst wirst du deinen Job verlieren.' Aber egal, ich wollte es dir trotzdem sagen." Dann wandte er sich an mich: „Ich hoffe, du vergisst nie, welchen Gefallen ich dir hier tue und lässt mich nicht fallen." Insofern handelte es sich gewissermaßen um eine Art Erpressung.

Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation in der Türkei ein?

Einerseits gibt es Verbesserungen, es werden Fortschritte in der Demokratisierung erzielt, und nach und nach zeichnet sich die Morgenröte einer besseren Zukunft ab. Auf der anderen Seite versuchen diejenigen, die eine andere Türkei wollen, durch immer neue Stolpersteine und Provokationen Chaos zu stiften. Noch immer gibt es Menschen, die die Tage der Anarchie zurückbringen wollen, die es gern sähen, wenn Ströme von Blut durch die Straßen flössen, und die das Herz des Friedens mit Vergnügen in die Luft sprengen würden. Trotzdem glaube ich, dass die Türkei die schlimmsten Zeiten überstanden hat. Möge Gott wollen, dass unser Volk in der Lage sein wird, eine schöne Türkei aufzubauen.

Empfangen Sie Besucher aus der Türkei, und wenn ja, wen?

Ich sehe einige meiner früheren Studenten, daneben auch einige Freunde aus den Ausschüssen der Stiftungen, die mich schon regelmäßig besuchten, als ich noch in Istanbul lebte; außerdem Herrn Harun und einige andere Freunde von der ,Stiftung der Journalisten und Schriftsteller'. Ich bin ein Mann, der das Leben vom Rand aus betrachtet.

Gehören auch Politiker zu diesem Kreis?

Mit Tayyip Erdogan habe ich mich getroffen, als er Bürgermeister von Istanbul war. Nachdem er Premierminister geworden war, hatte ich nicht mehr die Gelegenheit. Mit Abdullah Gül verbindet mich eine Bekanntschaft, jedoch keine sehr enge. Aus der Zeit, in der ich in Manisa arbeitete, kenne ich Bülent Arınç. Gelegentlich lasse ich ihn von Menschen, die ihn besuchen, grüßen. Von ihnen habe ich auch gehört, dass er nach meiner Gesundheit fragt und mich ebenfalls grüßen lässt.

Wie verfolgen Sie, was in der Türkei geschieht?

Meine Freunde versorgen mich mit Neuigkeiten aus dem Internet, außerdem empfange ich die Kanäle TRT und STV.

Was vermissen Sie am meisten?

Ich vermisse alles aus der Türkei. Reisen, die Teepausen auf dem Weg, einfach alles, sogar die Art, wie sich die Menschen kleiden. Egal wie gut oder schlecht sie auch sein mag - ich vermisse unsere Architektur. Die Wolkenkratzer hier mögen majestätisch wirken, unsere niedrigen Bauwerke gefallen mir aber besser.

Obwohl Sie die Türkei so vermissen, kehren sie nicht zurück. Warum nicht?

Ab einem bestimmten Alter spielt der Körper nicht mehr mit. Wie es ein arabischer Dichter einmal ausdrückte: Ich halte mich von den Dingen fern, bin aber mit Herz und Bewusstsein dabei. Nichts hält mich davon ab, mich ihnen verbunden zu fühlen. Lassen Sie es mich an einem Beispiel erläutern: Im Sufismus gibt es eine Stufe, die noch über der Stufe der Liebenden liegt. Wer diese Stufe erreicht, empfindet nicht einmal mehr das Bedürfnis nach der Vereinigung mit dem Geliebten (der Rückkehr zu Gott). Dort sagen die Sufis: „Lass mich von innen brennen, lass mich den Schmerz der Trennung beweinen; eine Vereinigung ist nicht das, was ich mir wünsche. Ich fühle, dass diese Glückseligkeit spendende Sehnsucht, dieser Trennungsschmerz, tiefer geht, ehrlicher ist und mehr von Herzen kommt.

Heißt das, Sie werden nie mehr zurückkehren?

Von Rechts wegen gäbe es nichts, was gegen meine Rückkehr spräche. Ich habe auch nie aufgehört, darüber nachzudenken. Ich habe einige Menschen in wichtigen Positionen in der Türkei damit beauftragt, die Lage zu sondieren. Sie haben gesagt: „Es gibt kein Problem, er kann kommen." Aber der Art, wie sie dieses „Er kann kommen" gesagt haben, habe ich entnommen, dass es ihnen möglicherweise Kopfzerbrechen bereiten wird, wenn ich tatsächlich zurückkehre.

Meinen Sie einige Menschen im Staat?

Ja, jemand stellte einmal einem Mann, der sich aus Altersgründen gerade aus einer verantwortungsvollen Position zurückgezogen hatte, die Frage: „Was bedeutet seine Rückkehr für Sie?" Dieser lächelte zwar, sagte aber: „Es wäre besser, wenn er nicht käme." Wahrscheinlich nimmt man an, meine Rückkehr könnte einige Dinge in Gang setzen. Bestimmte Leute könnten z.B. andere provozieren, auf die Straße zu gehen und für Unruhe zu sorgen. Ich möchte nicht die Tür zu Geschehnissen öffnen, die die gegenwärtige Stabilität in der Türkei erschüttern könnten.

Manche fürchten, Sie könnten zurückkehren wie einst Khomeini.

Wenn ich irgendwann zurückkehre, werde ich als ich selbst zurückkehren, als der Sohn von Ramiz Gülen, der drei Jahre lang als Imam in der Moschee von Edirne gedient hat. Es mag ihnen sonderbar vorkommen, aber ich frage mich, ob man mir heute erlauben würde, noch einmal in jener Moschee zu arbeiten, ob man mir gestatten würde, noch einmal wie früher dort in der Ecke zu stehen und nichts weiter zu tun. Ich frage mich, ob ich noch einmal einen Korankurs am Kestane Pazari leiten oder in einem Holzverschlag dort leben dürfte. Eine anderer Gedanke, der mir in aller Aufrichtigkeit kommt, ist, dass es in meinem Dorf ein Gasthaus gibt, das auf einem Feld steht, welches meinem Großvater gehörte. Deshalb sage ich: „Lasst mich dorthin gehen und wie ein Dorfbewohner in dem Dorf sterben, in dem ich geboren und aufgewachsen bin."

Sie sagen, Sie möchten in das Dorf gehen, in dem sie aufgewachsen sind, und dort sterben. Würden Sie wirklich dorthin gehen und sich ruhig verhalten?

Ich hege keinerlei Erwartungen, aber einige Dinge in dieser Welt liegen mir sehr am Herzen. Dies wird sich auch in der Zukunft nicht ändern. Egal unter welchen Bedingungen - denjenigen, die meine Worte schätzen und in alle Welt gehen, um im Bereich Bildung tätig zu werden, werde ich weiterhin Mut zusprechen. Selbst aus dem Grab heraus werde ich ihnen noch zurufen: „Geht, und baut Schulen! Gebt nicht auf, und bemüht euch, Türkisch zu einer Weltsprache zu machen!"

Ich werde unseren Geschäftsleuten sagen, dass sie als frische ,Schösslinge' in die Welt hinaus gehen sollen, um sich dort zu Bäumen zu entwickeln, dass sie Interessensgruppen bilden und die Türkei unterstützen sollen. Ich werde auch weiterhin sagen, dass sich die Türkei nicht vom Rest der Welt abschneiden und allein bestehen kann. Und sollte man ein neues Gesetz verabschieden, das mir den Mund versiegelt, werde ich mit Händen und Füßen weiterreden. Ich werde nicht aufhören, diese Dinge wieder und wieder anzusprechen. All das habe ich ja bereits in meinen Reden in den Moscheen getan - damals als Angestellter beim Staat, und nicht, wie man mir vorwirft, zu meinen ,Schülern'. Im Gegensatz zu manchen anderen Hodschas habe ich die Menschen ermutigt: „Helft mit beim Aufbau der Türkei, und sorgt dafür, dass die Stimme des türkischen Volkes überall Gehör findet."

Meiner Meinung nach, darf ein echter Nationalismus nur auf diese Art und Weise betrieben werden, nicht indem man sich lediglich mit Worten zu ihm bekennt. Die Türkei ist eine bedeutende Nation, und ich rufe all ihre Bürger auf, sich so hinter sie zu stellen wie sie dies im Unabhängigkeitskrieg taten. Ich kenne keine Gesetze, die mich in diesem Punkt zum Schweigen bringen könnten. Ich werde meiner Meinung auch weiterhin Ausdruck verleihen, das schulde ich meinem Volk.